Tuesday, October 21, 2014

Wir sind alle Wölfe.

Ein Kampf in drei Akten

"Die Gesichter, die draußen gehetzt vorbeifliegen, sehen aus, als hätten sie den Sommer schon ganz vergessen. Als wüssten sie gar nicht mehr, dass sie vor ein paar Wochen, Tagen sogar noch unter einer fremden Sonne gelegen und sich abends den Sand aus den Ohren gerieben haben. Als könnten sie sich nicht daran erinnern, wie unbeschwert sie waren und glücklich, als schauten sie die entwickelten Fotos nicht mehr an und hätten den Geschmack der letzten Meeresfrüchte längst von den Zähnen geschrubbt. Jetzt tragen sie Herbstmode und missmutige Mienen und führen ihre Resignation spazieren wie einen kläffenden Hund.

Ein kleines Stück Sonne scheint in ihre Schüssel mit Pasta, kleiner noch als der Fetzen Parmesan, den sie gerade konzentriert auf eine Nudel stapelt. Er hat nur einen gemischten Salat bestellt und schiebt jetzt die Blätter von einer auf die andere Seite und genau das ist irgendwo auch das Problem. Sein Blick sucht die Flasche mit dem Balsamico, er findet, rastet ein und lässt sie nicht mehr los. Die Häuser scheinen irgendwie weiter auseinandergerückt zu sein in den letzten Tagen. Sie streiten nicht mehr.

Vorher:
 „Als Kampf wird eine Auseinandersetzung zweier oder mehrerer rivalisierender Parteien bezeichnet, deren Ziel es ist, einen Vorteil zu erreichen oder für das Gegenüber einen Nachteil herbeizuführen“, sagt das Internet. Es ist ein Symptom ihrer Generation, Dinge zu googeln, auf die sie selbst keine Antworten hat, Lücken zu füllen, die sich mit Fertigpizza und 2,69€-Billigwein aus dem Supermarkt nicht mehr stopfen lassen. „Mit Kampf kann auch eine große Anstrengung gemeint sein, mit dem Ziel, sich selbst zu beherrschen, Widrigkeiten zu überwinden oder in einer Situation zu bestehen.“ Nie hat sie sich in einem Wikipedia-Eintrag mehr wiedererkannt. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, Männer seien Hunde und Frauen eine Katze. Später musste sie erfahren, dass sie für die oft nichts ist als ein nett riechender Knochen. Aber langsam dämmert ihr: wir sind alle Wölfe.

Ausweitung der Kampfzone I:
„Es könnte ganz leicht sein“, sagt er. „Es wäre genau das, was dieses beschissene Jahr vollenden würde“, sagt sie und nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Glas mit irgendwas drin. Es zu benennen, würde dieser Geste nur eine Aussage verleihen, die ihr nicht gerecht wird oder umgekehrt, derer sie nicht würdig ist. Rotwein wäre zu dramatisch. Whiskey zu pathetisch, Spezi zu profan. Sie meinen nicht das Gleiche, aber keiner hat Lust, den anderen aufzuklären. Vielleicht war es taktisch unklug, sich in einer Bar zu treffen, in der sie sich alles, was sie sagen wollen, in die schweißmüden Gesichter schreien müssen. Vielleicht war es Selbstbetrug, vielleicht auch ein Klischee. Hinter dem Mischpult zappelt sich ein magerer Jüngling mit Undercut die Seele aus dem Leib, an der Bar der scharfe Typ mit den leicht schiefen Zähnen. Eine kleine Kneipe in der linken Herzkammer von München, gerade noch so unbekannt, dass sie als Geheimtipp durchgeht, aber wer etwas auf sich hält, ist da. Viele halten etwas auf sich in diesen Tagen. Der Tresen klebt, der Boden auch, Bier und tausendundeine durchzechte Nacht hinterlassen ihre Spuren, die wie zufällig in den Raum geworfenen Möbel sind vom Flohmarkt und verkörpern genau die richtige Mischung aus Ramsch und abgefuckter Lässigkeit. Dieser ganze Laden hier ist ein verdammtes Klischee, durchzuckt es sie. Alles passt zusammen.

Nur eins passt nicht, und das sitzt vor ihr, zwischen Feierabendgesichtern und Beziehungsstressvisagen, und jagt arglos seinen Mojito durch den Strohhalm. Sie hasst es, wenn andere ihre Cocktails mit Strohhalm trinken. Strohhalme sind was für Kindergeburtstage und Senioren mit Schluckbeschwerden. Und es nimmt dem unwichtigen und doch irgendwie so bedeutenden Detail seine Größe, dass er gerade den Lieblingsdrink eines der überragendsten Schriftsteller, die je gelebt haben, gedankenlos durch die Röhre der Trivialität zieht. Hemingway hätte kubanischen Rum nie mit einem Strohhalm getrunken. Aber das sagt sie nicht. „Willst du noch einen?“, fragt sie stattdessen und hofft, betet plötzlich, er möge verneinen. Ist es dunkler geworden, seit sie zuletzt geredet haben, haben sich die peinlichen Discokugeln endlich aufgehört zu drehen, als sie fragte - oder bildet sie sich das nur ein? Sein Blick klettert vom versifften Glasrand müde nach oben, und er schaut sie jetzt direkt an, mit einer seltsamen Mischung aus Suff und Enttäuschung. Er wirkt zum ersten Mal angriffslustig, feindselig fast. „Klar trinken wir noch einen“, sagt er und rudert dem schiefzähnigen Kellner mit der Hand ins Gesicht. „Wieso auch nicht.“
Sie wissen nicht mehr wofür, aber sie sind bereit zu kämpfen.

Ausweitung der Kampfzone II:
„Die angreifende Seite wird in der Regel als Aggressor bezeichnet“, murmelt das Lexikon. Der Drucker rattert und stöhnt. Sie zieht das Papier raus, als es noch warm ist und riecht flüchtig daran, so wie andere Menschen am Kopf eines Neugeborenen schnuppern. Kinder mögen sie tendenziell nicht, sie weiß gar nicht genau wieso, ihre Mutter würde wahrscheinlich sagen, sie fremdeln. Mit Druckerschwärze kann sie besser. In Momenten wie diesen fragt sie sich, ob es genau solche Banalitäten sind, die einen am Ende vom Kätzchen zum Wolf werden lassen. Manchmal merkt man doch mittendrin im Gefecht, kurz bevor man fürchtet, man könnte verlieren, dass man eigentlich noch viel mehr Schiss davor hat, tatsächlich zu gewinnen. Aber dann ist es für einen Rückzug zu spät, die Rollen sind verteilt und die Schnitte noch nass. Die meisten Kämpfe führen in die Isolation.

Sie nimmt das Blatt, es ist immer noch warm, und zerreißt es langsam und mit fast kontemplativer Konzentration, bis es in fingernagelgroßen Fetzen über ihre Knie schwimmt. Da ist er wieder, der fahle Geschmack von Verlust im hinteren Rachenwinkel. Sie drängt ihn hastig in den Gaumen zurück und tastet nach ihrem Handy. Scrollt geistesabwesend ihre Kontaktliste durch, saugt sie auf, die virtuellen Gesichter und ihre lächerlich erzwungenen Weisheiten. Da, bitte, ich hab doch Freunde, spuckt sie in die frühe Nacht, die nicht den Anschein macht, als würde sie sich dafür interessieren. Ich könnte mich mit jedem einzelnen von ihnen jetzt noch auf ein Bier verabreden, wenn ich nur wollte. Sie hätte jetzt nicht übel Lust auf ein kühles Helles.

Wölfe sind auch nur Rudeltiere, letzten Endes - solange sich jeder nach drei Bier auf seine Erde zurückzieht. Am Ende kämpft man nur noch für sich selbst. Die Vorstellung vom ewigen Übersiedeln in fremdes Revier wird zur Illusion, zerfällt in den Staub besoffener Tage. Das bittere Gefühl schlängelt sich immer weiter, sie schmeckt es jetzt im ganzen Mund, rollt es mit der Zunge ein, lässt es an die Backenzähne krachen, und schluckt es dann vorne wieder runter, heftig und ein bisschen zu schnell.

Zwei Stunden vorher: frenetischer Applaus zerreißt den Münchner Gewitterhimmel. In der Pause trinken Frührentner in schlecht sitzenden Hosenanzügen überteuerte Cola und sie fragt sich zum neunundzwanzigsten Mal an diesem Abend, was sie hier eigentlich machen. Als wäre ein Kampf weniger erniedrigend, wenn man ihn in hohen Schuhen austrägt. Stattdessen kommt man sich vor wie der Statist einer Schmierenkomödie, von der alle anderen behaupten, es sei ein Drama von Brecht. Aber mit diesem Zug hat er die Kampfzone systematisch ausgeweitet, er geht jetzt zum Angriff über, erobert sie auch im Innenraum. Flucht beim letzten Beifall. Sie nimmt ihren dünnen Mantel entgegen und legt der Garderobenfrau einen Euro in die geöffnete Faust. Ich weiß ja, wie sich das anfühlt, sagt ihr Lächeln, zaghaft, aber bestimmt. Ich hab auch mal als menschliches Jackenkarussell gearbeitet, wobei das mit dem menschlich bei den meisten ja so eine Sache ist. Hol mich hier raus, flüstern ihre Augen, die schwer sind von Wimperntusche und zu viel Weißwein in der Pause.

„Kommst du?“ Er ist zur Stelle, natürlich. Legt ihr einen Arm um die Hüfte und schiebt sie sanft in Richtung Treppen. Sie muss sich ein bisschen am Geländer festhalten, verdammter Wein, aber das bringt ihn zum Lachen. Sie ist überrascht, wie gut er das kann. Fast als machte er das nicht zum ersten Mal. Sie wankt noch ein bisschen mehr, klammert sich etwas fester als nötig um den mit Plüsch bezogenen Handlauf, auch wenn der wahrscheinlich voll ist von Flöhen, es juckt sie schon bei der bloßen Vorstellung, aber sie kann sich gerade noch beherrschen, sich jetzt am Kopf zu kratzen. Von der letzten Stufe gelingt sogar ein kleiner Sprung. Hoffnung,  damit ihr komödiantisches Talent endgültig unter Beweis gestellt zu haben, ein kurzer und sehr peinlicher Anflug von Stolz. Sie schielt auf ihren Fluchtpunkt. Er lacht, aber irgendwie nur unterhalb der Nasenspitze und scharrt mit den Füßen. Draußen schneidet Frühherbstkälte scharf durch die Luft. München ist müde - sie auch.

Ob er noch mitkomme, fragt sie dann, rein aus Formalitätsgründen, sie kennt die Antwort, sie liegt dort drinnen auf dem Grund der Plastikbecher, verschüttet vom Wein. Sie macht es ihm damit eigentlich sehr einfach. Die üblichen Ausreden liegen alle in mundgerechten Häppchen bereit, die Ich-muss-morgen-früh-raus, die kleine Schwester Müdigkeit, auch die für Fortgeschrittene, irgendwas über Zopiclon HEXAL und Klamotten zum Wechseln. Er geht auf Nummer sicher und wählt die Zwei. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, als suchten sie dort nach Gold oder vergessenem Geld, drückt er ihr etwas auf den Mund, irgendwas zwischen Kuss und feuchter Luft mit Spucke, dreht sich um und geht. Sie schwankt ihr betrunkenes Ich alleine zur Tram. Über ihr läuft Rigoletto zum vierten Mal an den Vorhang und lässt sich vornüber fallen. Das überschminkte Gesicht der Oper ist eine Fratze und sie lacht ihr von allen Seiten dreckig ins Gesicht.

Ausweitung der Kampfzone III:
„Die Gewalt zwischen Israel und der im Gazastreifen regierenden Hamas dauert an. Die israelische Luftwaffe griff in der Nacht erneut Ziele in Gaza an“, trägt der Nachrichtensprecher mit schräg gestreifter Langweiler-Krawatte seine Sätze ohne große Leidenschaft in die Kamera. Überall herrscht Krieg, denkt sie, und keiner weiß, wofür. Auf einmal hat sie Lust, die Worte auszusprechen, einfach um zu wissen, ob sie tatsächlich so klug chiffriert und theatralisch klingen wie in ihrem Kopf. „Manchmal fühle ich mich wie Palästina“, sagt sie in die Atempause von Thorsten Schröder hinein und bereut es noch im gleichen Augenblick. Es klingt weder klug noch theatralisch, nur beschissen geschmacklos und noch dazu politisch inkorrekt. So könnte auch ein Song von Xavier Naidoo beginnen. „Was meinst du?“, murmelt er, ohne die Augen vom Bildschirm zu kratzen. „Manchmal fühle ich mit Palästina.“ Peng, Rückzieher. „Also, das muss man schon ein bisschen differenzierter sehen“, holt er auch schon aus. Pengpeng, linker Haken. Etwas fällt in ihr zusammen. Sie hatte sich das so gut zurechtgelegt alles, die Rede über Territorialisierung und Deterritorialisierung und das ohnmächtige Gefühl, erobert zu werden, die gewiefte Analogie ihrer irrationalen Angst zu einem besetzten Landstreifen zwischen Jordan und Mittelmeer. Sie hatte den Bogen geschlagen wie eine Figur im Kunstturnen und sauber auf der gegenüberliegenden Kante aufgesetzt. Eigentlich alles richtig gemacht. Aber gewackelt bei der Landung.

„Mag sein, dass die Palästinenser dort zuerst ihren Raum hatten, und klar, in einem Kampf gilt es auch, sich zu behaupten. Aber Raketen als Druckmittel abzufeuern und israelische Soldaten gefangen zu nehmen, wie die Hamas es tut, halte ich für kopflos. Auch wer abwehrt, kämpft. Die haben jetzt einmal angefangen, und können nicht mehr aufhören, bis alles in Schutt und Asche liegt“, sagt er und kratzt sich vielsagend am Kinn. Wichtige Worte sollten immer von nebensächlichen Gesten begleitet werden, das verleiht ihnen eine gewisse Lässigkeit. Sie nimmt sich vor, bei ihrem nächsten Bewerbungsgespräch beiläufig eine Banane zu schälen. „Aber ich fürchte, so wird es nie zu einer Lösung des Konflikts kommen, die einen schleudern Bomben, die anderen schmettern dagegen, und irgendwann kann man nicht mehr sagen, wer das Ganze angefangen hat. Was wir brauchen, ist eine Zwei-Staaten-Lösung.“ Er scheint zufrieden mit seinen Ausführungen und der politisch wertvollen Pointe und lässt sich etwas erschöpft in die angeranzten Sofakissen fallen. Ja, denkt sie und schließt die Augen, als würde sie gleich unter Wasser abtauchen, die Ohren dicht, den präfrontalen Cortex versiegelt. Genau das ist es, was wir brauchen. Eine Zwei-Staaten-Lösung. 

Nachher:
„Krass, dass der Sommer jetzt schon wieder vorbei ist“, sagt sie, dehnt die Worte und den warmen Käse auf ihrer Gabel und sieht ihm beim Nicken zu. Sie wissen beide, was sie damit eigentlich sagen will. Krass, dass das mit uns beiden jetzt schon wieder vorbei ist. Die Luft riecht nach frittiertem Essen und Verlust. Der Kellner war schon lange nicht mehr an ihrem Tisch, als hätte er Angst, ihr einträchtiges Unbeholfenheitsballett zu stören. Sie machen schweigend weiter, eine stapelt, der andere schiebt. Sie wissen auch, der eine so gut wie die andere: es war schon lange vorbei. Aber etwas ist anders an diesem Tag Ende August, nicht nur die Getränke. (Sie trinkt stilles Wasser, er Cola, ohne Strohhalm). Sie kämpfen nicht mehr. Was folgt, ist die Zwei-Staaten-Lösung. Waffenstillstand."



Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

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