Thursday, March 30, 2017

Das Gebiet hat kein Gedächtnis.

erschienen im Sammelband der Shortlist für den Schreibwettbewerb "Text and the City" (astikos Verlag)

"Egal, wo ich bin, ich muss nur die Augen schließen und schon sehe ich alles vor mir, wie das Relief auf einer Karte: Ich sehe eine schattige Straße, schwer von Häusern, und einen Kartenladen am Ende, dort, wo die Straße auf die nächste trifft und hell wird und laut. Der Boden riecht warm vom Abfall, vermischt sich mit dem Fischgeruch vom Markt ein paar Meter weiter, und ich halte die Luft an. Ich sehe einen kleinen Park, ein größeres Viereck mehr, mit Bäumen und Bänken im Schatten. Männer, die Boule spielen und junge Väter, die ihre Kinder in die Luft werfen, gut aussehende Väter, Tauben. Spieler, Flaneure, Irrende, Durchgänger. Ich sehe den Geldautomaten, der leicht knistert, wenn er die warmen Scheine ausspeit, und daneben eine obdachlose Frau, nicht älter als Dreißig. Sie hat ein Kind im Arm und immer sind sie in ein Dutzend Lagen gehüllt, auch wenn es sehr heiß ist und ich auf dem Weg in den Park. Als ob sie sich vor etwas schützen wollen. Oder kein Ärgernis erregen wollen bei den schicken Bürgern; jeder, der hier nicht am Boden liegt, ist Bourgeoisie. Leute, die mit nackten Beinen über andere steigen und sich an ihrem Sonntag gestört fühlen, wenn ihnen ein Bettler beim Geldabheben zuguckt. Ich sehe Taubendreck auf dem Boden, von Schuhen zerkratzt, und das kleine Kino an der Ecke, in dem sie Filme aus den Dreißigern zeigen. Ich sehe eine leere Küche, einen verlassenen Schreibtisch, eine einsame Matratze. Ich sehe Paris. 

Es steht immer noch der gleiche fette Mann hinter der Bar, kaum gealtert. Er zapft mir ein Bier, nimmt meine Kreditkarte, ich setze mich ans Fenster, das von einem schweren Vorhang geknebelt wird. „Kann ich mich setzen?“, fragt eine Stimme neben mir, und noch bevor ich denken kann, sowas passiert doch nur in Filmen oder Texten, die plötzliche Erscheinung eines prophetischen Charakters als handlungstreibendes und augenöffnendes Moment, ich habe es selbst schon genau zu diesem Zweck benutzt, bevor ich das also denken kann, habe ich schon mit meinem großen Zeh den Barhocker neben mir ein wenig zur Seite gerückt. Ich stoße halblaut etwas Zustimmendes hervor, nehme einen tiefen Schluck von meinem Bier und erlaube mir erst dann einen ausgiebigen Blick auf die Person neben mir: Schneeweiße Haare, erstaunlicherweise frei von diesem öligen Gelbstich, wie ihn Säufer und alte Leute sonst meist dulden, Adern, die sich wie Schlangen um schmale Handgelenke winden und eine große, etwas zu weit nach links gerutschte Nase: Ein klassischer Franzosenzinken. Eine Charakternase, wie man in der Familie sagen würde; in einer dieser Familien, in der man sich darauf geeinigt hat, eine gewisse Hässlichkeit umzudeuten, indem man sie zum Distinktionsmerkmal erklärt. Sie hängt in seinem Gesicht wie eine Sehenswürdigkeit, groß und eisern. Nicht unbedingt schön, nicht einmal besonders imposant; aber einfach da. Schweigend und stolz. Ich proste der Nase zu, sie bestellt auch ein Bier, ein belgisches, wir trinken schweigend. Die Nase wohnt im Gesicht eines älteren Mannes, einer dieser typischen Männer, die zu verrottet aussehen, um ein geregeltes Leben zu führen – wer tut das schon –, aber zu gepflegt, um in den Untergründen der Metro zu hausen; diese Männer tragen draußen Mantel und Fahne und in ihren Augen die Weisheit dieser Welt, meistens französische Literatur 16. und 17. Jahrhundert. Viele dieser Männer sind ehemalige Professoren. 

„Die Stadt erinnert sich nicht“, sagt die Nase plötzlich. Ich setze mein Bier ab. „Ich dachte mir nur“, er deutet auf mein Notizbuch, „du bist sicher einer dieser Menschen, der vor ein paar Jahren neu hierhergekommen ist; du hast diese Stadt an dich gerissen und zu deiner gemacht, und jetzt wandelst du auf dem Kopfsteinpflaster als wäre es Samt und trinkst Erinnerungen wie Frischgezapftes.“ Ich gucke etwas erschrocken, wohl auch wegen der unerwarteten Poetik dieses Schwalls, die Nase grinst: „Literaturprofessur, 1994. Doktorarbeit über Montaigne.“ Natürlich. „Ich kenne euch Leute. Ich habe euch unterrichtet. Scheiße noch eins, ich war selber mal einer von euch. Aber jetzt bin ich der, über den ihr sonntags beim Geldabheben stolpert, auf dem Weg zum Park. Ich bin der, der euch versucht, irgendetwas zu verkaufen, Zeitungen, Rosen, Taschentücher, während ihr in der Metro sitzt, euch am Hals rumleckt und den Mann mit den Zeitungen, mit den Rosen und den Taschentüchern später als Nebendarsteller in eure Geschichte schreibt. Ich war da, bei deinen großen Momenten in dieser Stadt: Du standest auf der Brücke, ich lag unter ihr. Du lagst im Park, ich stand vor dem Zaun. Du hast die Stadt gekerbt, mich hat sie wieder geglättet. Ich bin immer da: Aber man übersieht mich.“ Er hält kurz inne, vielleicht um nachzusehen, wie ich die Nachricht aufnehme: Mein Glas ist leer, der Blick glasig. Ich habe die ganze Zeit nichts gesagt, ich habe mich nicht verteidigt, wie auch, das Notizbuch ist unser Zeuge. Paris ist unser Zeuge. Die Nase hat mir (nicht) die Augen geöffnet: Dass man seiner eigenen Stadt egal ist, sieht man allein schon am Wetter. Dass Paris für mich das Epizentrum meiner Biographie ist und für andere nur eine Agglomeration mit unzureichendem Gesundheits- und Sozialversicherungssystem, war ebenfalls zu erwarten. Die Nase und ich wohnen im selben Gebiet; aber wir teilen nicht die gleiche Karte. 

Einen Menschen erkunden wie eine Karte, sein Leben durchkreuzen wie ein fremdes Land. Und immer das bleiben: ein Fremder. Einer, der besichtigt, ohne Teil davon zu werden; der Mauern berührt, ohne sie abzureißen und Türen immer zweimal öffnet. Einer, der am Ende immer geht. Zurückkehrt. Und der sich mehr an das fremde Gebiet erinnert als das Gebiet an ihn; das Gebiet hat kein Gedächtnis. 

Er saß am Küchentisch, wie immer, wenn ich heimkam. Ich schaute ihm einmal fest in die Augen, beinahe betäubt von der plötzlichen Gewissheit, oh du süßes Opium: „Du bist mein Paris“, sagte ich in sein Gesicht, dessen Gebiet ich niemals besetzen würde."