Wednesday, May 23, 2018

En construcció.

Barcelona, Mai 2018. 

Grau auf Prisma: An jeder Ecke, die sich nicht immer in Gestalt einer Ecke äußert, trifft man auf neue Formen, Säulen, Bogen, Gänge, Würfel, scheinbar wahllos und doch im Ganzen ein System, kühl wie die Steine, auf denen ich sitze und mich frage, als sich die katalonische Mittagssonne wie irre in den Glasfenstern bricht, ob Gaudí wirklich an Gott glaubte – oder an Licht. 

Und ob das überhaupt einen Unterschied machen würde, ob Basiliken nicht einfach Orte sind, an denen man seinen Fetisch ausleben kann und deren Symbol eben ein Kreuz ist und keine Fessel oder ein Geldschein. Am Ende sind das alles nur Formen mit festen Rändern, und um die Form geht es ja letztlich nie, nur um die Ränder, weil Raum so schwer auszuhalten ist, wenn er nicht begrenzt ist. 

Du bist ein Meisterwerk im Bau, irgendjemand legte den ersten Stein, aber noch bevor du es ahntest, ist etwas in dir erloschen, und jetzt liegt es an anderen, dich zu vollenden. Jeder wird etwas Anderes in dir sehen, die gehetzten Asiaten, die Paare, die sich am ersten Urlaubstag gestritten haben und die, die sich noch am selben Abend verloben, die Familien mit Kindern und die, die hier für eines beten, die Backpacker und Einzelgänger, die verirrten Seelen und leeren Hüllen, sie alle werden in dir ihren ganz eigenen Fetisch ausleben, am Boden, auf allen Vieren, wie Reptilien auf der Suche nach Licht. 

Keiner weiß, wo du hinführst, du bist ein Meisterwerk im Bau. Unaufhörlich sind da fremde Hände, die dich anfassen, unverhohlene Blicke, die dich abtasten; sie benutzen dich. Du bist eine Predigt aus Stein, oder eine Hure am Straßenrand: Du stehst da, lässt alles mit dir machen, inzwischen sind deine Streben zu Salzsäulen erstarrt, du lässt dir alles gefallen – vielleicht willst du gefallen. Dein loderndes Licht zieht sie an, und sie kleiden dich aus; dabei weiß jeder, was hinter den Fassaden geschieht, überall werden Steine verlegt und geschraubt, Passagen abgesperrt, deine Entstehung ist kein Geheimnis, sondern ein Werden im Kollektiv; du bist ein Meisterwerk im Bau.

Vielleicht hat Gaudí weniger eine Ode als vielmehr eine Parabel auf die göttliche Schöpfung geschaffen. Als Sühnetempel der Heiligen Familie wurde die Basilika in Auftrag gegeben, Künstler und Architekten wie Le Corbusier, Walter Gropius oder Dalí waren gegen den Weiterbau. Man ist sich bis heute uneinig, ob der Graben, der zwischen Idee und Ausführung verläuft, ein Fluss ist oder ein Ozean; niemand konnte wissen, wie der Meister seine Kirche weiter geplant hatte. Wir wissen es bis heute nicht. Ist das die eigentliche Sünde? 

Du bist ein Meisterwerk im Bau und täglich mahlen die Maschinen. 



Bild: privat

Saturday, December 16, 2017

Bericht aus Babylon.

erschienen im Adventskalender von mosaik - Zeitschrift für Literatur und Kultur

Tag vierhunderteinunddreißig

Es ist so windig hier, dass ich manchmal das Gefühl habe, mir werden die Gedanken aus dem Gehirn gerissen. Dagegen kann man nichts tun, man kann sie ja nicht festhalten, so wie man Strafen nur abzahlen und Sehnsucht nicht ausbremsen kann, und deshalb warte ich dann. Ich warte und schlafe, ich mache ein paar Kniebeugen, um nicht den Kopf zu verlieren, und putze mein Gewehr. An windstillen Tagen laufe ich mit dem Gewehr im Arm durch die trockene Landschaft und streichle meine Waffe wie die Schultern einer alten Affäre. Am Anfang habe ich mich noch gewundert, wieso ich überhaupt ein Gewehr habe – aber dann habe ich getan, was jedem Menschen ein laufendes Leben gewährt und mich einfach daran gewöhnt. Das kalte Silber des Laufes fühlt sich an wie ein Fisch, der durch meine Finger gleitet; oder als schwömmen sie selbst, durch einen See aus flüssigem Metall. Was ist schon ein Ozean – und was eine machtlose Metapher? Inzwischen stelle ich keine Fragen mehr: Ich bin ein Soldat. Und ich berichte von der Front. 

Als ich meinen Job hier angefangen habe, hat mir keiner erklärt, worin meine Arbeit eigentlich besteht. Aufpassen sollte ich, dass nichts aus den Fugen gerät und „den Laden sauber halten“. Ich wusste nicht genau, was damit gemeint war, und deshalb reinige ich jetzt jeden Tag mein Gewehr, obwohl ich es in den vierhunderteinunddreißig Tagen meiner Amtszeit noch nie gebraucht habe. Ich arbeite allein; das macht die Tage oft lang, aber anscheinend ist es unerlässlich, dass ich keinen Partner an meiner Seite habe und mir niemand reinredet. Manchmal bin ich mir unsicher, ob sie überhaupt wissen, dass ich keine blasse Ahnung habe, was ich überhaupt sagen und in was mir dementsprechend reingeredet werden könnte, und dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbringe, mit meinem Gewehr im Arm auf und ab zu laufen und auf die feine Linie zu starren, die einem Horizont gleicht, aber wahrscheinlich eher so etwas ist wie die Oberleitung einer weit entfernten Bahnstation. 

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der nicht dieser Krieg herrschte. Ich kenne die Welt nur so: der Horizont verleimt von Bahnhöfen, Plakaten, Schildern, bitte aussteigen, bitte trinken, bitte kaufen, bitte konsumieren, aber bitte – kein Müll. Abfall gilt hier als Teufel im System eines falschen Minimalismus (gegründet auf Exzess und seiner Überforderung), denn Plastik und Öl verstopfen heimlich Waldärme und verkleben die Wirtschaft. Als wäre alles nur eine Frage des Stoffs. Doch der eigentliche Unrat, der wirkliche Feind, ist unmöglich zu treffen, denn er ist überall, er liegt in der Luft, hängt in Gardinen und klebt an Wänden, klettert in Ritzen und wächst auf den Bäumen. Er verbreitet sich durch die Zeitung und das Fernsehen, gebiert auf Kaffeetischen und in Krankenhäusern, befruchtet Ehebetten. Wahlplakate, Slogans, Parolen, Hashtags, Nachrichten, Informationen, Fake News; Worte zum Erklären, zum Überzeugen, zum Verführen. Es wirbt um jeden, bietet sich allen an und dient doch keinem außer sich selbst. Es ist Schaf und Wolf in Einem, Bauer und König, Hure und Diktator. Ich kann mich nicht erinnern: an eine Zeit vor der Diktatur des Wortes. Es kommt Gott so nah wie niemand zuvor, fast kann es seinen strengen Atem riechen. Und vielleicht wird es eines Tages sogar sein Mörder. 



Tag vierhunderteinunddreißig, später 

Deshalb sitze ich jetzt hier also im Wind, seit vierhunderteinunddreißig Tagen, und kratze mich am Arm. Vom dauernden Kontakt mit dem Metall des Gewehres hat er sich an der Ellenbogenbeuge innen entzündet. Ich beobachte die schuppig nässende Haut der Wunde wie ein Wissenschaftler oder ein Archäologe, mit wachsendem Interesse und gleichzeitig zärtlicher Gleichgültigkeit. Seit Wochen habe ich keine Nachricht mehr aus der Zentrale bekommen, keine Anweisung, kein Wort, aber dafür umso mehr Zeit zum Nachdenken; die Stille ist ungewöhnlich, seit der Informationsfluss versiegte. Außer dem verdammten Zug, der durch diese Einöde jagt, der durch keine Bäume und keine Häuserwände aufgehalten wird und dem sich nichts entgegenstellt, ist der Raum, in dem ich arbeite, leer. Und so langsam bekomme ich das Gefühl, dass das auch genau so gewollt ist. Von oben. Wer ist dort oben?

Eigentlich gibt es keine Obrigkeiten mehr, das war ja einst die züngelnde Verlockung: Demokratie durch das Wort. Kollektive Wahrheitsfindung und jeder darf mitreden, Silben als Währung, jeder kann sich bedienen, ist genug für alle da. Aber allmählich entwickelte sich aus dieser kommunistischen Utopie ein Kapitalismus der Rhetoriker, der Texter und Wortgewandten, der Lauten, und man versteht sich nicht mehr. Jetzt werfen wir uns die Sätze hin wie vergammeltes Fleisch und graben in den Ruinen von Babylon nach einer Wahrheit, die es so nie gegeben hat. Das Wort hat sich verselbstständigt, ist übermächtig geworden; inflationär. Es hat auf dem Weg zum Monopol all seine Macht verloren: Babel hat sich selbst zerstreut. 



Tag vierhundertzweiunddreißig

Heute habe ich zum ersten Mal mein Gewehr fallen lassen. Ich hatte beschlossen, mein Gebiet näher zu untersuchen. Irgendwelche Ergebnisse müsste ich doch nach Hause bringen, dachte ich panisch beim Aufstehen. Ein paar Daten, eine Handvoll aussagekräftige Erde, zumindest einen Bericht, ein Körnchen Wahrheit? Es kommt mir seltsam genug vor, Soldat zu sein, direkt an der Front, und nie auf den Feind zu treffen. Nur Himmel und Erde strukturieren mein Feld, getrennt durch diese eine feine Linie, die immer den Anschein macht, als wäre es möglich, sie zu überschreiten. Außer dem Wind, der manchmal leise pfeift und mir sonst geräuschlos über den Körper fährt, höre ich nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend. 

Ja, der große Knall, als meine Waffe auf die frostharte Erde stieß, war vielleicht das erste Geräusch seit Beginn meiner Dienstzeit. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, fiel mir auf, dass der Boden unter mir von feinen Rissen durchzogen wurde, Linien, die mich an die Aufzeichnungen eines Seismographen oder eines EKG erinnerten. Erst dann wurde mir klar, wie symptomatisch diese Vergleiche für unseren Zustand sind, die wir am Wort kranken: Wie wir uns mit der Zeit angewöhnt haben, Ausdruck auf Ausdruck zu schichten und zu stapeln, Metaphern übereinander zu ziehen wie Kleidung an einem kalten Wintertag, als hätten wir Angst, ohne die schützende Speckschicht der Worte plötzlich allein im Wind zu stehen, zitternd und nackt. Ich sah mich um: Mich fror tatsächlich. 



Tag vierhundertdreiunddreißig

Meine Felduntersuchung konnte also letzten Endes ziemlich schnell – und zugegeben recht stümperhaft – durchgeführt werden, und das lag nicht nur daran, dass mir immer kälter wurde und der silbrige Frost der Flinte meine Finger steif werden ließ, mein Blick wanderte von einem unbestimmten Punkt bis zum nächst denkbaren, irgendwo im Hintergrund meinte ich den Grundriss eines Baumes zu erkennen, ich notierte: Der Raum ist leer. Jetzt, wo ich es zum ersten Mal ausgesprochen habe, wird mir erst das Ausmaß dieses sprachlichen Hohlraums bewusst; überall lockte mich sonst immer etwas mit krummen Fingern, mal war es ein Schriftzug, mal eine Rede, manchmal auch nur ein einziger Satz, der ein Parteiprogramm oder das Patent einer Liebesfähigkeit beschwor, im Grunde ist jedes Wort, auch das private, nur noch Werbung, Reklame für die eigene Wahrheit in der Wahlurne eines anderen. Wir halten uns an Worten nicht mehr fest – wir hängen uns an ihnen auf. Davon ist in diesem Raum nichts mehr, nichts verhindert, dass sich mein Blick nach innen richtet. Ich blicke auf mein Gewehr, unbenutzt seit vierhunderteinunddreißig Tagen. Die kleine Öffnung im Lauf starrt schweigend zurück. Bin ich, in der Uniform eines Soldaten, endlich frei?

Doch Freiheit, das merke ich ziemlich schnell, ist verunsichernd. Wir haben lieber falsche Wahrheiten als Ungenauigkeiten, lieber Fake News als sokratische Apologie. Diesen Krieg haben wir also selbst verschuldet, das Wort war immer nur Beihelfer: Es versucht Gefühle in Gedanken zu übersetzen, zwängt Vages in Gewissheiten, ja, es arbeitet ohne Skrupel – aber wir haben die Fäden in der Hand. Haben wir den Laut erst domestiziert, und dann vergewaltigt? So zogen wir damals der Musik den Strick der Sprache um die Kehle und seitdem verstopfen wir uns mit hohlen Phrasen den Hals. Man drückt den Menschen ein Instrument in die Hand, und für einen kurzen Moment fühlen sie sich frei; dann gehören sie ihrer Waffe. Ich stelle mir vor, dass die Welt vor dem Wort ähnlich dalag wie mein Gebiet: Weit und schweigsam, wie eine offene Wunde. 



Tag vierhundertfünfunddreißig

Stattdessen dieser Krieg, und wir mittendrin. Sie holen mich jetzt zurück, gestern habe ich es erfahren. Anscheinend ist mein Job hier erledigt. Ich bin inzwischen überzeugt: Das war kein richtiger Einsatz. Vierhundertfünfunddreißig Tage und kein einziges Mal habe ich meine Waffe benutzt. Und doch war ich Soldat, direkt an der Front: Ich arbeitete als Späher und Steuer in der Stirn, stationiert am vorderen Ende der linken Großhirnhemisphäre eines so hungrigen wie maßlos übersättigten, eines freien und dabei unendlich verlorenen, kurz eines ganz gewöhnlichen Menschen. Ich sollte die Wahrheit ausmessen und in einem detaillierten Frontbericht aufschreiben. Was wollt ihr jetzt von mir hören? Ich habe nicht viel herausgefunden, außer dass man ein Gewehr am besten mit Öl und etwas lauwarmen Wasser wäscht und dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur unendlich viele Übersetzungen davon. Ich notiere einen letzten Satz in mein Notizbuch: Sprache ist ein Schlachtfeld. Dann setze ich mich hin und warte. 

Bald kommen sie mich holen. Es weht wieder wie am ersten Tag, mein Ausschlag ist noch nicht ganz verheilt und brennt im Wind. Ich atme in den Schmerz und vergesse mein Gewehr. Der Krieg wird wahrscheinlich weitergeführt, jedes Haupt an seiner eigenen Front, aber ich will dieses semantische Fressen nicht mehr, ich habe es satt und einen Beschluss gefasst, es ist ein Versprechen – und ich werde es halten: Das ist mein letztes Wort.



Bild: Steve Shapiro, "The Worst is Yet to Come", Muhammad Speaks Newspaper, New York City 1968

Wednesday, August 02, 2017

Kurze Geschichte des Fehlers.

Der Fehler steht am Anfang der Menschheit. Er ist der Grund, wieso wir in Massentierhaltung produziertes Kalbsfleisch essen, schlechtes Gewissen abgepackt in schwitzende Folie unter verzweifelt um ideale Ausleuchtung bemühten LED-Stäben, Fett und Leber statt Milch und Honig, aber um 30 Prozent reduziert, und wieso wir uns nur noch ausziehen, wenn man den Anderen anmacht oder die Lichter aus. Der Fehler prangt als Dellen und Male auf der Haut der Menschen, zieht sich als Lücken und Verdrängtes durch ihre Biographien und wird nicht nur in ihre in Südostasien hergestellte Kleidung, sondern in ihr ganzes Wesen eingenäht.

Mit dem Fehler fängt es also an. Ohne ihn gäbe es keine Geschichte; das Alte Testament beginnt mit einem Fehler (und dem Fall). Wenn etwas reißt, vielleicht so wie Adam den Apfel vom Baum brach, den Ast ein bisschen beschädigt, das Blätterwerk zerwühlt, wenn aus einem Ganzen ein Teil wird und aus einem glatten Feld eine Kerbe – dann kommt der Stein ins Rollen. Wie eine Insel hebt sich der Fehler aus dem flachen Ozean der Unschuld und des Nichts, formt Küsten und Grenzen; gebiert Packeis, an denen Schiffe brechen, Häuser und Willen. Die Erfindung von Eis am Stiel liegt einem Fehler zugrunde: Frank Epperson war elf Jahre alt, als er in einer Winternacht ein Glas Limonade mit Löffel vor dem Fenster vergaß. Das Patent von 1923 beschert gefrorenes Pappeis mit Zucker, ein Versehen zum Ablecken. Auch die Entdeckung von Penicillin, Viagra oder Dynamit waren Fehler, allenfalls Zufälle. 

Und für uns war es auch so. Irgendwo schleicht sich immer Dreck ins Getriebe, und wir wollten ihn ja auch, den Schmutz, wollten körniges Chaos statt klinische Gefühle, die man im Doppelpack unter Neonstoffröhren kauft, zugeschnitten und abgepackt, unbenannt; ja, wir wollten es so. Ist das also das Leben, zu dem wir verdammt sind, die kurze Steißgeburt eines Fehlers, alles ist verdreht - und dann nichts als Korrekturen?

Weil wir also alle Fehler machen, aber jeder einen anderen, stolpern diese Fehler übereinander, bringen sich gegenseitig zu Fall und lassen keinen anderen Schluss zu als das Ende


Bild: Google Maps (Mistake Island, Mount Waddington A, British Columbia, Canada)

Saturday, May 06, 2017

Bitte München, werde endlich mal richtig krank.

Wenn ich an München denke, kriege ich das Gefühl, jemand schnürt mir die Luft ab; legt mir die Hand auf die Kehle und drückt zu. Aber genau so, dass immer noch ein kleiner Stoß Sauerstoff seinen Weg in die Lunge findet – gerade so, dass es zum Leben reicht. 

München hat die besten Ärzte, ist aber klinisch tot. Wird beatmet von Lifestyleblogs und Pop-Up Stores, die nicht wissen, dass sie alles nur noch schlimmer machen und zwangsernährt von Wirtshäusern und Bierhöllen, weil das eben schon immer so war. Tradition ist nicht immer Tugend, sondern manchmal einfach Einfallslosigkeit. Neulich war ein Freund aus dem Québec zu Besuch in München, wir hatten Glück mit dem Wetter, ich kaufte ihm Pommes von der Gute Nacht Wurst (Bergwolf hatte zu) und Augustiner vom Reichenbachkiosk, wir setzten uns an die von Ausschwärmern vollgespülte Isar und hielten Bier und Füße ins klare Wasser. Er war begeistert, ich dann auch; München hat seine Momente. Aber dazwischen ist das Leben dort ein einziges Wachkoma, eine Stadt wie ein Sedativum. 

Man kann sich nicht einmal gepflegt darüber aufregen, leidenschaftliche Hasspamphlete schreiben wie über die schlachtschiffgraue Hässlichkeit Berlins oder die Menschen in Paris; gegen München zu hetzen ist meistens genauso frustrierend wie die Stadt selbst, die glattgeschleckten Wände der Residenz bieten kaum Angriffsfläche. Wehren sich mit penibler Sauberkeit gegen jegliche Art von fundierter Kritik – München tut dir ja nix. Es ist fleckenlos, wohlhabend und sicher; es hat genau so viel Kulturangebot, um nicht als brach zu gelten, und alle paar Monate macht eine neue Gin Bar auf, weil es unter Lehramtsstudenten jetzt sehr hip ist, auf viel zu kleinen Holzstühlen Dinge zu degustieren, von denen sie nicht betrunken werden. Es ist schwer, gegen diese abartige Vorbildlichkeit anzuschreiben, Max Scharnigg hat es trotzdem geschafft, aber die meiste Zeit trägt München Gore-Tex. Das hilft gegen Regen und Alpenfön, und ist so praktisch wie unschön. Aber Hauptsache nicht krank werden.

Und vielleicht ist das das Problem: München ist nicht krank. Dabei bräuchte es genau das. Muss ja kein Krebs sein, aber zumindest mal eine richtige Erkältung; auf jeden Fall irgendwas mit Fieber. Denn eine Stadt lebt wie eine Existenz davon, dass Dinge passieren, Beulen aufbrechen, Nähte platzen und Wunden zuwachsen. Von Brüchen und Narben. Von Exaltation und Verfall. Aber in München, wo Ekstase in die SAUNA passt, wo Rebellion beim Ordnungsamt angemeldet wird und das Leben wie ein renaturierter Fluss ohne Strom vor sich hin mäandert, ist alles nur noch von Markt und Maschinen beatmeter Stillstand. 

Ist das alles jetzt sehr subjektiv, befeuert von einem individuellen Stadtkomplex und der Tatsache, dass ich in wenigen Wochen mit dem größten Widerwillen aus Paris ziehe? Bestimmt. Ist das alles übertrieben, aufgepeitscht, an den Ecken geschärft, um erstens als definierter Text zu stehen und zweitens kantenlos Teil einer Polemik zu werden? Sicher. Aber dann denke ich wieder an München und fühle die Wände näher auf mich zukommen. 

München ist eine Kreuzung aus Pleasantville und Schöner Neuer Welt: Es passiert nichts wirklich Schlimmes, und nichts wirklich Gutes; aber das ist nicht die Definition einer Stadt mit Puls. Städte müssen dich kaputtmachen, zu Boden zwingen und dann wieder in den Himmel werfen, sie müssen dich anzünden und manchmal verbrennen; München liegt seit Jahren in seiner eigenen Asche und raucht im Biergarten vor sich hin, eine Stadt in dörflicher Benommenheit. Nicht wirklich gesund, aber auch nicht wirklich krank: chloroformiert, anästhesiert, ruhiggestellt. Örtlich betäubt. Was wir haben, ist ein Koma; was es braucht, ist eine Krise. 

Bitte München, werde endlich mal richtig krank. Dann komm ich dich auch besuchen. 




Bild: privat (seltenes Münchner Kammerflimmern, Mai 2016)

Thursday, March 30, 2017

Das Gebiet hat kein Gedächtnis.

erschienen im Sammelband der Shortlist für den Schreibwettbewerb "Text and the City" (astikos Verlag)

"Egal, wo ich bin, ich muss nur die Augen schließen und schon sehe ich alles vor mir, wie das Relief auf einer Karte: Ich sehe eine schattige Straße, schwer von Häusern, und einen Kartenladen am Ende, dort, wo die Straße auf die nächste trifft und hell wird und laut. Der Boden riecht warm vom Abfall, vermischt sich mit dem Fischgeruch vom Markt ein paar Meter weiter, und ich halte die Luft an. Ich sehe einen kleinen Park, ein größeres Viereck mehr, mit Bäumen und Bänken im Schatten. Männer, die Boule spielen und junge Väter, die ihre Kinder in die Luft werfen, gut aussehende Väter, Tauben. Spieler, Flaneure, Irrende, Durchgänger. Ich sehe den Geldautomaten, der leicht knistert, wenn er die warmen Scheine ausspeit, und daneben eine obdachlose Frau, nicht älter als Dreißig. Sie hat ein Kind im Arm und immer sind sie in ein Dutzend Lagen gehüllt, auch wenn es sehr heiß ist und ich auf dem Weg in den Park. Als ob sie sich vor etwas schützen wollen. Oder kein Ärgernis erregen wollen bei den schicken Bürgern; jeder, der hier nicht am Boden liegt, ist Bourgeoisie. Leute, die mit nackten Beinen über andere steigen und sich an ihrem Sonntag gestört fühlen, wenn ihnen ein Bettler beim Geldabheben zuguckt. Ich sehe Taubendreck auf dem Boden, von Schuhen zerkratzt, und das kleine Kino an der Ecke, in dem sie Filme aus den Dreißigern zeigen. Ich sehe eine leere Küche, einen verlassenen Schreibtisch, eine einsame Matratze. Ich sehe Paris. 

Es steht immer noch der gleiche fette Mann hinter der Bar, kaum gealtert. Er zapft mir ein Bier, nimmt meine Kreditkarte, ich setze mich ans Fenster, das von einem schweren Vorhang geknebelt wird. „Kann ich mich setzen?“, fragt eine Stimme neben mir, und noch bevor ich denken kann, sowas passiert doch nur in Filmen oder Texten, die plötzliche Erscheinung eines prophetischen Charakters als handlungstreibendes und augenöffnendes Moment, ich habe es selbst schon genau zu diesem Zweck benutzt, bevor ich das also denken kann, habe ich schon mit meinem großen Zeh den Barhocker neben mir ein wenig zur Seite gerückt. Ich stoße halblaut etwas Zustimmendes hervor, nehme einen tiefen Schluck von meinem Bier und erlaube mir erst dann einen ausgiebigen Blick auf die Person neben mir: Schneeweiße Haare, erstaunlicherweise frei von diesem öligen Gelbstich, wie ihn Säufer und alte Leute sonst meist dulden, Adern, die sich wie Schlangen um schmale Handgelenke winden und eine große, etwas zu weit nach links gerutschte Nase: Ein klassischer Franzosenzinken. Eine Charakternase, wie man in der Familie sagen würde; in einer dieser Familien, in der man sich darauf geeinigt hat, eine gewisse Hässlichkeit umzudeuten, indem man sie zum Distinktionsmerkmal erklärt. Sie hängt in seinem Gesicht wie eine Sehenswürdigkeit, groß und eisern. Nicht unbedingt schön, nicht einmal besonders imposant; aber einfach da. Schweigend und stolz. Ich proste der Nase zu, sie bestellt auch ein Bier, ein belgisches, wir trinken schweigend. Die Nase wohnt im Gesicht eines älteren Mannes, einer dieser typischen Männer, die zu verrottet aussehen, um ein geregeltes Leben zu führen – wer tut das schon –, aber zu gepflegt, um in den Untergründen der Metro zu hausen; diese Männer tragen draußen Mantel und Fahne und in ihren Augen die Weisheit dieser Welt, meistens französische Literatur 16. und 17. Jahrhundert. Viele dieser Männer sind ehemalige Professoren. 

„Die Stadt erinnert sich nicht“, sagt die Nase plötzlich. Ich setze mein Bier ab. „Ich dachte mir nur“, er deutet auf mein Notizbuch, „du bist sicher einer dieser Menschen, der vor ein paar Jahren neu hierhergekommen ist; du hast diese Stadt an dich gerissen und zu deiner gemacht, und jetzt wandelst du auf dem Kopfsteinpflaster als wäre es Samt und trinkst Erinnerungen wie Frischgezapftes.“ Ich gucke etwas erschrocken, wohl auch wegen der unerwarteten Poetik dieses Schwalls, die Nase grinst: „Literaturprofessur, 1994. Doktorarbeit über Montaigne.“ Natürlich. „Ich kenne euch Leute. Ich habe euch unterrichtet. Scheiße noch eins, ich war selber mal einer von euch. Aber jetzt bin ich der, über den ihr sonntags beim Geldabheben stolpert, auf dem Weg zum Park. Ich bin der, der euch versucht, irgendetwas zu verkaufen, Zeitungen, Rosen, Taschentücher, während ihr in der Metro sitzt, euch am Hals rumleckt und den Mann mit den Zeitungen, mit den Rosen und den Taschentüchern später als Nebendarsteller in eure Geschichte schreibt. Ich war da, bei deinen großen Momenten in dieser Stadt: Du standest auf der Brücke, ich lag unter ihr. Du lagst im Park, ich stand vor dem Zaun. Du hast die Stadt gekerbt, mich hat sie wieder geglättet. Ich bin immer da: Aber man übersieht mich.“ Er hält kurz inne, vielleicht um nachzusehen, wie ich die Nachricht aufnehme: Mein Glas ist leer, der Blick glasig. Ich habe die ganze Zeit nichts gesagt, ich habe mich nicht verteidigt, wie auch, das Notizbuch ist unser Zeuge. Paris ist unser Zeuge. Die Nase hat mir (nicht) die Augen geöffnet: Dass man seiner eigenen Stadt egal ist, sieht man allein schon am Wetter. Dass Paris für mich das Epizentrum meiner Biographie ist und für andere nur eine Agglomeration mit unzureichendem Gesundheits- und Sozialversicherungssystem, war ebenfalls zu erwarten. Die Nase und ich wohnen im selben Gebiet; aber wir teilen nicht die gleiche Karte. 

Einen Menschen erkunden wie eine Karte, sein Leben durchkreuzen wie ein fremdes Land. Und immer das bleiben: ein Fremder. Einer, der besichtigt, ohne Teil davon zu werden; der Mauern berührt, ohne sie abzureißen und Türen immer zweimal öffnet. Einer, der am Ende immer geht. Zurückkehrt. Und der sich mehr an das fremde Gebiet erinnert als das Gebiet an ihn; das Gebiet hat kein Gedächtnis. 

Er saß am Küchentisch, wie immer, wenn ich heimkam. Ich schaute ihm einmal fest in die Augen, beinahe betäubt von der plötzlichen Gewissheit, oh du süßes Opium: „Du bist mein Paris“, sagte ich in sein Gesicht, dessen Gebiet ich niemals besetzen würde."



Friday, February 24, 2017

Der postmoderne Urschrei.

Manchmal würde man gerne schreien, den Mund aufreißen und schreien und schreien, schreien wie noch nie ein Mensch geschrien hat, hilflos und primitiv, irrsinnig; man will sich vokal häuten, sich die Existenz vom geschundenen Leib schreien, eine Art Urschrei, wüst und animalisch, sich die sauberen Fesseln vom Körper reißen, man will einfach nur mal richtig schreien, und dann reißt man den Mund auf und sagt „Danke, ich würde gerne mit Karte zahlen“.






Bild: privat (Urschrei in Schottland, November 2016)

Wednesday, January 11, 2017

Ein Mensch wie jeder andere.

 
"Herr P. war ein Mensch wie jeder andere: Er wurde geboren und dann wuchs er und verfaulte und irgendwann hielt er sich nur noch am Leben wie eine eigensinnige Maschine. Morgens und abends Tabletten in eine gähnende Mundhöhle, jede Existenz weniger eine bewusste Entscheidung als eine Art automatisierter Vorwärtswille.

„Bin gleich wieder da“, stand auf seinem Spiegel, der Strich vertrocknet (Perfect Slim Eyeliner von L’Oréal in Intense Black) und nur noch als schmieriger Film lesbar. Bin gleich wieder da. Das war jetzt dreizehn Jahre her. Ziemlich wahrscheinlich konnte man die Schrift auch gar nicht mehr lesen, vielleicht hatte die polnische Nachbarin das Glas längst gewischt, aber er wusste es, und das reichte. Mit zittrigen Fingern tastete er nach der Tablettenschachtel im Spiegelschränkchen, warf die Dose Rasierschaum um, blickte nach unten, auf seine Hände, würgte den alten Ekel vor seinen gelben Fingernägeln. Er war lange Raucher gewesen. Jetzt nicht mehr; jetzt trank er große Mengen Wasser und schied scheinbar noch größere Mengen wieder aus, was ihm beunruhigend schien, aber er traute sich nicht nachzufragen. Er ernährte sich von Kartoffeln, die sollten ihm Kraft geben, gute deutsche Kartoffeln, und püriertes Obst, das sollte die Verdauung unterstützen, und Tabletten; die sollten ihn überhaupt am Leben halten. Sagten die Schwestern. Und er dachte, das Einzige, was mich am Leben hält, ist diese beschissene Pumpe, die einfach nicht aufhört halbherzig zu arbeiten. Herr P. wäre schon längst fertig.

Er war ein Mensch wie jeder andere: Man wird geboren und dann wächst man und verfault und irgendwann wartet man nur noch auf das Ende. Zwölf verschiedene Tabletten musste Herr P. jeden Tag einnehmen, jeweils zwei kreisrunde und zwei längliche morgens, vier mittags und den Rest abends. Er ließ sich ein großes Glas mit Wasser volllaufen, entließ ein gutes Dutzend Tabletten aus ihrem benutzerfreundlich gestalteten Gefängnis und schluckte: Bin gleich wieder bei dir. Ob sie sich trafen? Zuerst kam der Husten. Dann die Schwestern."