Wednesday, December 09, 2015

Wie ein Text entsteht, selbst wenn er keine große Lust darauf hat.

Ihr stellt euch das so lässig vor, so roh. Mitten in der Nacht hat man diesen Einfall, man muss ihn einfach aufschreiben, diesen hemingway’schen „wahrsten Satz, den man kennt“, und dann steht man auf, kippt sich ein paar Gläser Rotwein oder Jack Daniel‘s hinter die Binde – Weißwein ist ja ganz nett, aber von einem lieblichen Sauvignon blanc hat noch niemand einen Roman geschrieben – und setzt sich an die Schreibmaschine, die im Takt des vor Aufregung und Ethanol wild klopfenden Herzens einrastet und ausrastet wie ein entlaufener Gaul. Gedanken weichen Gefühlen, die jetzt hektisch auf das Papier schwimmen, kraulen, durch die Tinte tauchen. Das Ganze ist natürlich emotional hochgradig aufgeladen, wie in einem Wahn wird die ganze Geschichte heruntergeschrieben, fast in einem Zug, nur für ein paar Zigarettenzüge hält man an. Nach dem vierten Absatz: der erste Atemzug. Auf Seite drei schreibt man den Satz, der später auf billige Postkarten gedruckt wird. Auf Seite sieben erkennt man, was die Welt im Innersten zusammenhält (Liebe und Physik). Man weint ein bisschen. Hinterher legt man die fünfzehn Seiten auf die Seite und duscht sich kalt ab, um den fiebrigen Schweiß herunter zu waschen. Nachspülen mit Whiskey. Neugeboren.

In Wahrheit schreibst du auf einem Laptop (nein, kein Macbook; einfach nur ein stinknormaler, scheißlangweiliger Laptop). Es ist ein ruhiger Mittwochabend, den ganzen Tag war man wie elektrisiert von Inspiration, vom Herbst und seinen Schatten, die ganze Stadt leuchtet und vibriert, sie flimmert und zuckt! Jetzt hast du elf Tabs offen, einen Wikipedia-Eintrag über spanische Dublonen und streichelnden Elektro, Mails, eine Tageszeitung fürs Gewissen und Buzzfeed für den unsinnigen Rest, Facebook natürlich. Und irgendwo links unten ein blaues Worddokument, das sich ungefähr alle sieben Minuten höflich räuspert und nuschelt, „Ähm, wie war das denn jetzt, werde ich noch gebraucht?“

Langsam werden deine Augen feucht - kein Wunder, du glotzt seit fünf Stunden in einen ungeputzten Bildschirm. Du googelst „Schriftsteller, die zu Lebzeiten verkannt wurden“ und verstehst plötzlich deine kosmische Bestimmung. Du trinkst einen Schluck Leitungswasser und schreibst dann einen Text darüber, wie man keinen Text schreibt. Schlechtgeworden.


Bild: privat

Thursday, November 12, 2015

Pont au Change.

in englischer Sprache erschienen in The Offing

"In zwei Sekunden kann man einen Tequila exen oder zwei wieder auskotzen. In zwei Sekunden kann man sich einmal durch die Haare fahren oder alle abschneiden. In zwei Sekunden kann man verstohlen rülpsen oder für einen kurzen Moment die Welt atmen hören. In zwei Sekunden kann man nicht: sein Leben ändern. Aber eine Ampel kann es. Und genau so war es irgendwie auch, an einem nichtssagenden Mittwochnachmittag durchschnittlicher Luftfeuchtigkeit, als die Ampel an der Pont au Change von Rot auf Grün sprang und sich im Leben von Z. alles drehte.

Wie immer hatte sie sich beim Warten schräg nach hinten umgedreht, wo der Eiffelturm stand. Geduldig, gelangweilt, eine französische Charakternase aus Stahl. In einer Stadt, in der jeder Gedanke im Staub erstickt wird, weil alles schon gedacht, gesagt, gefühlt wurde, ist es schwer, irgendetwas völlig Neues zu tun; immer wenn ihr das klar wurde, wollte sie die Straßen umfalten und ausheben, Brücken spalten, Pflastersteine vom Asphalt brechen. Sie wollte die ganze Stadt in große Stücke reißen und sie schälen, häuten, entkernen.

Noch einmal umdrehen. Sie machte es nicht auffällig, vor allem aber machte sie keine Fotos, sie war ja keine gottverdammte Touristin. Nur sich vergewissern, dass er noch da war; dass man selbst noch da war. Alles war noch da, wie gestern. Wie immer. Im Café Bords de Seine saßen ein paar Leute alleine vor ihrem Espresso und taten beschäftigt oder ließen es bleiben, die Gesichter wie leere Teller. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen, es war März, aber immer noch kühl, außerdem war sie ja eben keine Touristin, sie konnte die abgegriffene Schönheit dieser Stadt auch im Vorbeihetzen bewundern. Um den Place de Châtelet schlängelten sich die Autos in wichtigtuerischer Eile, überrannten sich, blieben stecken. Es gibt keine Lücken in Paris. Paris ist eine Stadt wie ein gelebtes Leben, die ganze Topographie ein abgetretener Weg. Der Gedanke fuhr ihr in die Knochen wie ein stumpfes Skalpell. Und dann sprang die Ampel und sie lief los. Und dann sah sie die Lücke. Sah erst durch die Lücke hindurch und dann außenrum, auf das Gesicht links und rechts und oben und unten von dieser Lücke.

Wäre ein Gesicht ein fremdes Land, dann hätte sie diese Prärie in dem Moment betreten, als die Ampel umsprang an der Pont au Change. Am liebsten wäre sie durch dieses Gesicht spaziert wie durch einen Nationalpark und hätte sich in den Falten verlaufen. Vielleicht in der Grube links neben dem Mundwinkel niedergelassen und eine kleine Weißweinschorle bestellt. Aber weil es ja ein Gesicht war und kein Nationalpark, und weil sie ja nicht verrückt war und außerdem eh viel zu groß proportional gesehen, lächelte sie einmal hinein wie in einen Spiegel und sagte Hallo. Und der Zaun um die Lücke öffnete sich zu einem breiten Grinsen und sie ging rein."



Bild: Roger W (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Saturday, October 10, 2015

Und dann leben wir und kerben.

frei nach Gilles Deleuze und Félix Guattari, Mille plateaux

Jeder Raum ist zunächst glatt; liegt da, völlig offen und formbar wie ein weiches Stück Wachs. Unendlich. Schutzlos. Und dann leben wir und kerben. Und dann ist die Straße nicht mehr ein unbekanntes Stück Asphalt, sondern der Weg von dir zu einem Anderen. Dann ist die Stadt ein dichtes Koordinatensystem unzähliger Bezugspunkte, werden stumme flache Wände zu sprechenden Apparaten mit Struktur. Dann gehst du nicht mehr zwischen Häusern hindurch und siehst nur das: Häuser.

Plötzlich sind da Biographien hinter Gips und Beton. Du hast dich überall im glatten Raum festgeschlagen, deine Finger ins heiße Wachs gedrückt. Du bewegst dich zwischen fremden Schatten und läufst durch eine Stadt, die sich nur für dich hochgezogen hat. Dann ist da nicht mehr ein leerer Raum, dann verschwinden eindimensionale Fassaden. Du schlägst Kerben an jeder Ecke; und dann ziehen sich deine Linien wie schwarze Schnüre durch den Wind. Dann ist da der Weinkeller, in dem zu tief auf den Grund gekratzt wurde, ist der Club, vor dem du fünf Gin Tonic und die Erinnerung an einen Menschen ausgekotzt hast und dann ist da das Schuhgeschäft, vor dem dir deine Mutter samstags eine geknallt hat. Und du kerbst weiter.


 
 
Bild: Ellen Munro (flickr.com) unter cc by 2.0

Monday, October 05, 2015

90 Grad.

"Das Erste, was ich spüre, als ich die Augen aufmache, ist mein großer Zeh. Gleich danach: die gleichen Zweifel. Manche Leute preschen ja im Fahrtwind durchs Leben, mühelos, einen Arm lässig aus dem Fenster hängend, vielleicht eine Zigarette im Mundwinkel. Manche sind die entspannten Beisitzer, die nur den Soundtrack aussuchen müssen, während sie ein geübter Fahrer sicher über die Schlaglöcher hebt. Ich bin eher das quengelnde Kind auf dem Rücksitz. 

41 Grad, das Auto stampft wie ein Lavakessel durch die Asphaltwüste. Die Sonne ohrfeigt blasse Gesichter erbarmungslos durch die Fensterscheibe, Gurte brennen, Hemden kleben, irgendwo zwischen den Sitzen läuft ein Wassereis aus, als wollte es sagen, Leckt mich doch alle mal, ich verschwinde jetzt. Es läuft keine Musik, weil man mit Phil Collins irgendwie das Gefühl hätte, einem wäre noch heißer, und die zwei müden Menschen vorne haben aufgehört, sich über alles aufzuregen, wahrscheinlich machen sie im Stillen weiter. Ich bin das quengelnde Kind auf dem Rücksitz. „Sind wir bald da?“, frage ich zum vierzehnten Mal in einer halben Stunde und versuche, mir einen Tropfen Eis vom Ellenbogen zu lecken. Ich bin sieben Jahre alt und es ist mir scheißegal, dass die anderen Kinder in der Schule behaupten, keiner käme dort mit seiner Zunge hin. Ich bin ein bisschen zu dick, aber einfach weil ich weiß, dass es das wert ist und wenn ich will, komme ich überall hin, an den Ellenbogen und auch in den Urlaub. Holland, haben meine Eltern gesagt, ist toll, es gäbe dort Meer und verwunschene Wälder, Fahrradwege, Holzschuhe und hervorragenden Käse. Beim Käse hatten sie mich. Wäre ich älter und kein Einzelkind, würde mir vielleicht auffallen, wie erschöpft die Stimme meiner Mutter klingt, als sie sich zu mir umdreht und ihre Worte so beruhigend auf mein Gesicht tröpfeln lässt wie sonst nur unser rostiger Rasensprenger: „Ja, bald sind wir da. Und wenn wir ausgepackt haben, gehen wir ans Meer, okay?“ 

„Wenn Sie den Bericht über das Jubiläum im Krankenhaus fertig haben, gehen Sie doch bitte mal zum Bäcker, okay?“ 41 Grad, nicht einmal einen Ventilator haben diese beschissenen 22 Quadratmeter Nichtigkeitstristesse. Unter meiner schwitzigen Handfläche irrt eine Maus kreuz und quer über den flirrenden Bildschirm, ich öffne eine Alibi-Artikelseite und lese ein Tab daneben heimlich den Wikipedia-Eintrag über fortgeschrittene Geometrie, ich fasse meine feuchten Haare im Nacken zusammen und puste überschüssigen Kohlenstoff in die stickige Luft. Eine Fliege spaziert vom zweiten über den dritten Absatz und ich verspüre den dringenden Wunsch, mit ihr zu tauschen. Ich bin zwanzig Jahre älter und neidisch auf einen Zweiflügler. Ein Praktikum in der Lokalredaktion, haben meine Eltern gesagt, ist eine super Möglichkeit, endlich einen Fuß in die Tür zu bekommen, keiner hat im Feuilleton der ZEIT angefangen. Jetzt sitze ich also in harten Sesseln mit abartigen Mustern und mache das, was man auf Französisch auch „Les chiens écrasés“ nennt, überfahrene Hunde. Gott, ich wäre froh, würde ich tatsächlich über Mordfälle berichten. Stattdessen laufe ich mit einer Redaktionskamera zum vierzigsten Jubiläum der freiwilligen Zeitverschwender und schieße absurd schlechte Fotos, die dann am nächsten Tag auch noch tatsächlich abgedruckt werden. Als ich vom Bäcker zurückkomme und meinen Kollegen, die ich am besten mit der Farbe „beige“ beschreiben könnte, ihre Blätterteigbanalitäten auf den Tisch lege, weiß ich, dass ich morgen nicht wiederkommen werde. Das Billiggebäck ist durch, ich bin es noch nicht. 
Meine auf dem Rückweg sorgsam komponierte Kündigungsrede fliegt trotzdem in den Müll, stattdessen werde ich das abwickeln wie jeder rebellische Protagonist: einfach nicht mehr kommen. Ghosting am Arbeitsplatz, mein innerer Schweinehund wedelt begeistert mit dem Schwanz. Draußen schlägt mir die Nachmittagssonne frontal ins Gesicht, sie kommt mir hämisch vor, als versuche sie, die Menschheit systematisch auszubrennen. Nur ein Hang zum Pathos kann die stoische Indifferenz der Welt und des Wetters uns gegenüber manchmal aufheben, die platte Trivialität dieses Moments. Eine fette Frau mit weniger Klamotten als ihr aus gesellschaftlichem Anstand zustünden, teilt ihn sich mit mir. Ich nicke ihr kameradschaftlich zu, ich war ja auch mal dick, und fließe über die Metallsitze. 
Ich denke an diese Reise nach Holland. An das bestimmte Ziel, das ich vor Augen hatte, während ich den Sitz vollschwitzte, an die Gewissheit, das Meer. Am Bahnhofskiosk kaufe ich ein Bum Bum, streiche mir ein bisschen Softeis auf den Arm, lege die Zunge darüber und warte darauf, dass sich dieser Geschmack von Ankommen im Gaumen ausbreitet. Nichts. Es schmeckt nur nach Kunststoff und unerfüllten Freibadsehnsüchten und die Frau neben mir scheint leicht verstört angesichts meiner unkonventionellen Essentechnik. Macht man das jetzt so, fragt sie sich vielleicht, oder wohin kämen wir denn da. Außerdem schielt sie neidisch auf den knallroten Plastikhaufen in meiner Hand. Ich drehe mich weg und muss den Rest Bum Bum mit Sicht auf eine Oberleitungsstörung lecken, aber zumindest das Gehirn wird gekühlt. Mir ist ständig heiß und trotzdem habe ich das Gefühl, ich bin invariabel halbgar. Wir legen uns in vorgeheizte Jahre und irgendwie passiert nichts, außer zweimal 41 Grad im Sommer. Was fehlt, ist der rechte Winkel.

Mittlerweile habe ich erkannt, wieso mir die verwirrte Frau so vertraut vorkommt, woher ich den Schwung ihrer Nase kenne und das fliehende Muttermal über der Lippe. Es ist mein älteres Ich, das da neben mir sitzt und eigentlich würde ich gerne wissen, wieso verdammtnochmal ich in zwanzig Jahren wieder dick geworden bin, ich habe mich doch nächtelang nur von Kühlschranklicht ernährt, aber eine Frage drängt noch mehr: „Sind wir bald da?“ 
Ich werfe ihr das ganz vorsichtig vor die Füße, so wie man einem aggressiven Hund ein Stück Fleisch als Beruhigungsköder vor die Nase legt, mit ausgestrecktem Arm und spitzen Fingern, die Beine bereit zu rennen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören will. Mein älteres Ich sagt nichts, ich versuche sie mit meinem Eis zu bestechen: „Bum Bum?“ Mir fällt im selben Moment auf, wie bescheuert das klingt, wie plemplem. Ich will doch einfach nur wissen, ob diese innere Unruhe irgendwann aufhört. Ob man jemals den Punkt erreicht, an dem man sich irgendwie vollständig fühlt und im Lot. Mein älteres Ego schweigt hartnäckig, dann brabbelt sie etwas von „Fällen“, „Konstruktion“ und „Grad“, steht schwerfällig auf und geht, ich werfe ihr den blauen Kaugummistiel hinterher. „Ich will aber nicht nach Stalingrad!“, rufe ich wütend. Ich will doch nur endlich ankommen. 

Wikipedia durchzuckt mich und ergibt plötzlich so etwas wie Sinn: „Ein rechter Winkel ist ein Winkel von 90 Grad. Zur Konstruktion gilt es, ein Lot auf einer Geraden zu fällen.“ Das Letzte, was ich spüre, als ich die Augen zumache, ist mein großer Zeh. Dann lasse ich mich fallen."


Bild: Franca Gimenez (flickr.com) unter cc by-nd 2.0


Monday, August 03, 2015

Schwarz-Weiß.


erschienen in der Anthologie des Superpreises für Literatur (Verbrecher Verlag, Berlin)

"An den Seiten ist Sacré Cœur kohlrabenschwarz. Zuerst und von weit weg sieht man immer nur die weiße Pracht, die sich über Paris aufschichtet wie frisch geschlagene Sahne; man muss sich die Zeit nehmen, darum herumzulaufen, um die verbrannten Flecken zu sehen. Ist es mit Menschen nicht auch so, denkt sie und schluckt und schmeckt Enttäuschung und Erleichterung und Hunger und läuft weiter.

Stiefel im Schnee. Ein Knirschen. Die gellenden Schreie der Mutter, Koffer mit offenen Mäulern. Männerstimmen, die die Winterluft zerreißen, Fenster bersten. Schreie. Ein letzter Kuss, nie eingelöst. Stiefel im Schnee. Wenn man doch nur vergessen könnte.

„Sie haben Alzheimer, Frau Goldmann“. Es ist nicht immer leicht, wenn Wünsche wahr werden, manchmal ist es sogar ziemlich beschissen. Der Mann im weißen Kittel vor ihr hat ein typisches Arztgesicht, mit scharfen Wangen und Wohlstandsfalten. Er lässt einen Kugelschreiber durch seine Medizinerfinger gleiten und schaut sie eindringlich an, als überlegte er, ob er sie für den folgenden Monolog wie ein Kind oder eher wie eine Erwachsene behandeln sollte. Das Zimmer ist gewöhnlich und bedeutungslos wie ein abgeschliffener Stein, es bietet keine Angriffsfläche. An den Wänden Querschnitte des menschlichen Körpers und die Kinder des Arztes, immerhin noch ganz. Wo ist deine Ehefrau, will sie ihn fragen, hast du Angst, sie aufzuhängen, weil du manchmal davon träumst, genau das zu tun? Sie will sich irgendwo festhalten, aber ihre nervösen Blicke rutschen an den sterilen Oberflächen ab. „Frau Goldmann“, sagt der Arzt eindringlich, es kommt irgendwie dumpf an und gleichzeitig ganz klar. „Wissen Sie, was das heißt, Frau Goldmann?“ Der Arzt hat sich offenbar dafür entschieden, sie wie eine begriffsstutzige Patientin zu behandeln, die nicht ahnt, dass sie sich von nun an den Arsch von einer unterbezahlten Polin abwischen lassen muss. Dass sie dabei zusehen wird, wie sie in sich selbst zerfällt. „Natürlich weiß ich das“, sagt sie, hält sich an der glatten Stuhllehne fest, nur mit den Fingerspitzen, und versucht sich krampfhaft daran zu erinnern, womit sie heute Früh ihr Brot bestrichen hat. Hatte es überhaupt Brot gegeben?

Raue Hände. Dreckige Fingernägel, die sich in ängstlich zitterndes Fleisch bohren. Schreie. Alkohol zieht aus ihren Schluchten, faulig und scharf. Blut auf dem Laken, wie eingebrannt. Stiefel im Schnee.

 Der Doktor redet noch ein paar Minuten auf sie ein, aber sie hört nicht zu, wozu auch, sie wird es ja doch gleich wieder vergessen, das hat er ja selbst gesagt. Dann drückt er ihr ein Faltblatt in die zitternde Hand, „Diagnose Alzheimer“ steht darauf, zwei lachende Senioren werfen ihr und der Diagnose ein debil-vitales Grinsen hämisch ins Gesicht. Sie verspürt das dringende Bedürfnis, sie zu schlagen, aber dann würde man sie erst recht für geistig verwirrt halten und einsperren. Die Gesellschaft mag keine alten Schachteln, die angebissene Perlenketten tragen und auf Reklamemenschen einprügeln. Die Gesellschaft mag Senioren, die sich in die Windeln machen und trotzdem fröhlich von Prospekten lächeln.
„Bis bald, Frau Goldmann. Und viel Glück.“ Der Arzt steht auf und exerziert diesen festen Händedruck an ihr, der Empathie und Selbstvertrauen gleichzeitig suggerieren soll. Es wird schon alles wieder gut, aber da müssen Sie jetzt auch irgendwo alleine durch, sagt dieser Händedruck. Ich stelle nur die Diagnosen. „Danke, Herr Doktor“, sagt sie, überrascht, wie fest ihre eigene Stimme klingt - „Und hören Sie auf, meinen Namen ständig zu wiederholen. Jeder weiß, dass man diese Masche spätestens im zweiten Semester lernt. Guten Tag.“
Draußen surrt Paris unter der Julisonne und trotz allem fühlt sie eine gewisse Ruhe, ein andächtiger Zustand völliger Klarheit. Noch kann sie sich wehren. Die Krankheit wird einem ganz allmählich alles nehmen: das Gedächtnis, den Mut. Die Würde. Ich will nicht vergessen, denkt sie. Lieber nichts als alles. Alzheimer ist ein Dieb, der alles in große Plastiksäcke steckt, den Plasmafernseher und den Goldschmuck der Verwandtschaft, die Haushaltsgeräte und alles Bargeld. Ein Dieb, der nur stiehlt, was dir am meisten wert ist. Und den Dreck zurücklässt. Noch weiß sie, dass sie vergisst und vergessen wird. Aber schon bald wird sie nicht mehr bemerken, dass sie immer die gleichen Fragen stellt. Sie wird wütend werden und aufsässig, wenn man sie wie ein unfähiges Kind behandelt und sich wundern, wieso die fremde junge Frau mit den feinen Haaren „Mama“ zu ihr sagt. Sie wird apathisch werden und den leeren Blick hinter ihrem Gesicht im Spiegel nicht mehr hinterfragen.

„Entschuldigen Sie, junger Mann, wo finde ich denn die Pfirsiche?“ Monoprix hat schon wieder umgeräumt. Der Mitarbeiter zeigt nach rechts, nur wenige Meter neben ihr wartet die Auslage, das Obst schaut sie beinahe vorwurfsvoll an, ein Apfel grinst höhnisch. „Aber Sie haben in Ihrem Korb doch schon einige Pfirsiche“, nuschelt der junge Typ vorsichtig. Die Welle kommt heftig und schnell, ein heißer Strahl aus Scham, aber sie reagiert auf so etwas mittlerweile, ohne groß nachdenken zu müssen: „Wissen Sie, alle meine Enkel kommen dieses Wochenende zu Besuch. Die lieben Pfirsiche, besonders die jüngste. Manchmal isst sie alles weg, ohne dass ihre Geschwister auch nur ein Stück erwischen!“ Dazu stolpert ein hysterisches Kichern aus ihrem Mund. Okay, das reicht, ermahnt sie sich, du übertreibst es, zudem sieht der Mitarbeiter nicht aus, als würde er sich für ihre fiktiven Familienprobleme interessieren. Beschämt reiht sie sich in die Kassenschlange ein und kauft ein Dutzend praller Pfirsiche, von denen sie zehn zu Hause in den Müll kratzen wird. Wie letzte Woche.

Ein dunkler Bart, der an ihrer Wange kratzt. Alles an der Bewegung ist grob, ruckartig. Kaum unterdrücktes Stöhnen. Schreie. Die Augen offen und starr wie verlassene Höhlen, vor dem Fenster zittert die nackte Kastanie im Wind. Stiefel im Schnee. 

 Ihr ganzes Leben hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht als die Fähigkeit zu vergessen. Aber, wie immer kommt die Erkenntnis erst nach dem Fall, integrale Freiheit bedarf immer auch: Kontrolle. Sie schlingert unter den festen Händen der Krankheit, kann nicht auswählen, was sie behält und was vergisst, was sich in ihre Gehirnrinde gefressen hat wie Asbest und was einfach durchs Raster fällt. Kindheitserinnerungen und traumatische Erlebnisse bleiben Alzheimer-Patienten oft erhalten, hatte der Arzt bei ihrem vierten Treffen erklärt, und so stand es auch in dem Faltblatt mit den heuchlerischen Senioren. Auf einem kleinen Spiralblock in der Küche macht sie sich jetzt Notizen. Und jede Woche das Kreuzworträtsel. Ankämpfen gegen das Vergessen, obwohl man sich ihm am liebsten hingeben würde, hineinfallen will in ein Vakuum totaler Taubheit. Pfirsiche werden vergessen, Telefonnummern, Namen, eigentlich alles, was die Identität für andere konstruiert. Aber was bleibt, sind die Bilder. Die Männer. Die Angst, wie Beton auf einem Schwimmer.

Lachen, kehlig und mokant. Etwas zieht an ihren Haaren, sie lässt die Tränen laufen, aber nach innen, alle Organe scheinen zu zittern. Von weit her die Stimme der Mutter. Schritte, die näher kommen, die Treppe rauf, nach Jahren kennt man jede Stufe, jedes Geräusch. Schreie. Falten im Nachthemd. Stiefel im Schnee. Stiefel im Schnee. Stiefel im Schnee. Stiefel im Schnee.

Schweiß überrollt sie wie eine Welle, nein, ein Tsunami, sie keucht, aber es übertönt nicht die Schreie in ihrem Kopf. Die Bilder kommen jetzt immer öfter. Meist aus dem Hinterhalt, es reicht, wenn ihr auf der Straße ein Paar schwarzer Schuhe entgegen schreiten oder der Geruch von klarem Schnaps. Nur noch ein paar Stufen. Der Atem geht stoßweite, aber sie versucht, die Stöße auszudehnen. Wenn ich jetzt umfalle, bin ich ganz alleine. Sie schiebt den Gedanken weg, auch dass sie sich auf dem Weg verlaufen hat, zweimal, konzentriert sich auf die Schritte. Bein heben, vorwärts. Bein heben, vorwärts. Sie hat noch keine Hilfskraft aus Osteuropa, die Blöße will sie sich nicht geben, ihre Rente reicht auch für zehn zusätzlich unberührte Pfirsiche und anderes Obst mit einer Schale aus Scham. Einatmen. Ausatmen. Widersprüche werden sich nicht auflösen, aber vielleicht will sie sich auch gar nicht auflösen. Ihr Atem wird immer ruhiger und zum ersten Mal seit Monaten hat sie den Anflug eines Gefühls der Kontrolle. Alles nehmen, was von mir noch bleibt, denkt sie und fühlt sich seltsam leicht dabei. Dann baut sich die Basilika in ihrer ganzen Zuckerbäckereleganz vor ihr auf: Sacré Cœur, Exil ihrer Ängste. Sie streckt ihre Hand nach der kühlen Mauer aus, betrachtet ihre faltige Hand und die Brandflecken auf dem weißen Kalk und lässt zu, woran sie das alles erinnert: Ein brennend kalter Januartag im Jahr 1945. Auf der harten Erde heben sich, ganz scharf, ein paar schwarze Schuhspitzen ab. Stiefel im Schnee."


Bild: Justin Schier (flickr.com) unter cc by 2.0

Wednesday, July 01, 2015

A (very) short love story.



In the damp summer of 1935, he fell in love.
She fell down the stairs.







Bild: Ilya (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Wednesday, May 13, 2015

Freier Verfall.

 
"Die Tür ächzt ein bisschen beim Aufschließen, als hätte selbst sie genug von dieser Welt. Entnervt wirft sie ihre Sandalen in eine Ecke, die Sonnenbrille in die andere. Hat eh schon wieder einen Riss, aus dem das Glas halb heraus fällt, weil sie immer die billigen an der Straßenecke kauft. An dem Stand, an dem es dieses eine Modell in allen Neonfarben gibt, und für die gleiche Zielgruppe Piercings in den abartigsten Formen. Die gleichzeitig hippen und stillosen Verkäufer dort kauen gelangweilt Kaugummi und nehmen ihren Schein immer mit spitzen Fingernägeln entgegen – als wäre sie diejenige mit dem schlechten Geschmack. Sie nimmt immer die gleiche Brille, immer in schwarz. Vielleicht ist das langweilig - sie setzt eigentlich auf zurückhaltend-stilvoll. Manchmal sind die besten Menschen doch die Leisen.
 
Aber egal in welcher Farbe, die ganzen Klamotten, die Brillen und Schuhe sind doch letzten Endes auch nur dazu da, dass man sich draußen ein bisschen besser in seiner Haut fühlt. Oberflächlichkeit ist manchmal ein wahrer Segen. Es reicht, wenn andere erst nach einigen Wochen oder auch schon Tagen bemerken, dass sie komplett neurotisch ist. Aber wenn sie die Straße entlang federt, mit flatternden Augen und wippender Hüfte, dann genießt sie es, einfach mal so zu tun, als wäre sie ganz bei sich selbst. Vor allem jetzt, zu dieser Jahreszeit. Im Sommer verteilt sie geschmolzenes Lächeln und kühle Blicke wie gratis Cornettos. Zeigt ihre nackten Beine und versteckt die Melancholie hinter selbstgeklebten Sonnenbrillen. Wahrscheinlich wirkt sie dann tatsächlich selbstbewusst statt von Selbstzweifeln zerfressen, ausgeglichen statt auf einer ständigen Berg- und Talfahrt. Manchmal ist ihr fast physisch übel von dem Höhenunterschied. Aber meistens ist sie eh nicht lange himmelhoch jauchzend. Die Luft ist eindeutig zu dünn da oben.
 
Ab 1200 Metern Höhenunterschied wringt sich der Druck auf den Ohren bis ins Gehirn, man erkennt die Signale mittlerweile, das Blut fängt dann an zu rauschen wie ein motivationsmüdes Radio und selbst das überlaufende Gefühlszentrum neben der Brust kann das Vakuum im Kopf nicht mehr auffüllen. Auch Bergsteiger bekommen durch den Sauerstoffmangel beim Aufstieg Konzentrationsprobleme und Denkschwund. Wer will das schon, so ein Hirnödem klingt wirklich öde. Wenn sie ganz oben ist, lässt sie deshalb los. Der Fall ist so kurz, dass sie ihn nicht einmal mitbekommt, und nach dem Aufprall bleibt sie meistens noch eine gute Weile liegen."
 
 

Bild: Jacob Walti unter cc0 1.0
 


Saturday, January 10, 2015

Keiner hatte Krebs, sie war Löwe.

"Am Straßenrand neben dem Supermarkt klebt eine Kotzlache, ein dichter Haufen mit groben Enden, ein paar Spritzer eilig rundherum verteilt. Das Ganze erinnert irgendwie an ein zeitgenössisches Gemälde. Oder vielleicht sieht auch einfach moderne Kunst mittlerweile aus wie Kotze. Was dieser Gedanke mit dem späteren Vorfall zu tun hat, ist jetzt noch unklar. An diesem Dienstag hebt sie erst mal die Beine leicht an und steigt über den Fleck hinweg. Versucht, nicht einzuatmen, tut es aber dann doch, einer Art masochistischen Neugier folgend.

Es sind Menschen, dachte sie montags, als sie sich in den Laken zusammenkrümmte, es sind Menschen, die sich gegenseitig kaputt machen. Das Betttuch schmeckte nach nassem Salz. Es gab bei den meisten keine äußeren Faktoren der Destruktion, sie machten tagsüber irgendwas, sie hatten Geld und Gouda für abends, sie waren im großen Ganzen alle gesund, keiner hatte Krebs, sie war Löwe. Was ist also Ursache für die ganze Scheiße?

Die Linie 3 riecht nach Schweiß und geistiger Verwesung. Um sie herum käsig-verkabelte Gesichter, im Türglas spiegelt sich ihre eigene Interpretation. Zu Tausenden rumpeln wir voran, wie Schweine in ‘nem LKW zum Schlachthof. Im Bauch der U-Bahn sind wir alle gleich, stammeln Oliver und Axel aus dem Kabel. „Schau mal in deinen Taschen nach“, pustet ihr jemand von hinten ins Ohr. Ihre Nackenhaare streift ein bitterer Wind. Eine Mischung aus Fremdheit, Wermut und Absinth. Wermut? Oder Wehmut, denkt sie noch. In unbekannten Situationen kommen ihr die absurdesten Gedanken. Als sie sich umdreht, blickt sie in zwei blaugraue Augen, klein und fest wie Kieselsteine. Der Mann, der ihr gerade seine Epiphanie per Tröpfcheninfektion ins Ohr speicheln wollte, trägt filzigen Bart und Fahne, er riecht nach siebzehn Tagen ungeduscht. Nur seine Augen sind wie poliert, kalt und ganz klar. Die Augen als Spiegel der Seele, was für ein beschissenes Klischee, das ist ihr erster Gedanke. Klingt so armselig, als hätte sich das jemand nur ausgedacht, um es schreiben zu können. Wehe, der will mit mir jetzt über Gott reden, denkt sie als Zweites und sucht das volle Abteil hilflos nach anderen Opfern ab. Dass die mittlerweile nicht mal vor Zugtüren Halt machen. Sie entscheidet sich, den Fremden nur müde anzuschauen und zuckt zur Bekräftigung ihrer finanziellen wie spirituellen Ohnmacht noch mit den Schultern. Er ist schlussendlich kein Zeuge Jehovas. Die Frage ist, ob er überhaupt was bezeugen kann außer den fatalen Auswirkungen von Alkohol auf Farbe und Elastizität menschlicher Haut. Erst als der Penner aussteigt, fällt ihr ein, was er gesagt hat und sie lässt drei Finger in die Manteltasche wandern. Sie fühlen: nichts.

Es gibt keinen Anlass für die Hölle. Und trotzdem ist sie da; nicht unbedingt als Ort, aber doch als diesiger Raum, ohne feste Grenzen. Denn Eines merkt man nicht erst zu sechs Uhr feierabends in der U-Bahn, aber vielleicht besonders dann: Die Hölle, das sind die Anderen. Und es ist echt ein Jammer, dass Sartre diesen Satz schon gesagt hat, denkt sie, greift an die kühlen Metallhebel und lässt sich auf den Bahnsteig kotzen. Das wäre mir auch eingefallen."



Bild: Mario Calvo unter cc0 1.0