Monday, August 15, 2016

Jeremiah oder Auch ein Drogenabhängiger mag kein Heroin.

erschienen in der 17. Ausgabe von Das Prinzip der sparsamsten Erklärung

frei nach Albert Camus

"Eines Tages wachte Jeremiah mit Ruhepuls und gemäßigtem Blutdruck auf und wusste, er hatte ein Problem. Jeremiah war, das sollte man klarstellen, kein wehleidiger oder pathetischer Teenager, sondern ein gestandener Mann und hatte in seinem 21089 Tage kurzen Leben seinen gerechten Anteil an Kämpfen gekämpft. Er kannte Krankheiten und Abhängigkeit, er war geschieden und gebrochen, dreimal am Herz und einmal in der linken Kniescheibe - auf einer Reise in Kambodscha -, er wurde mehrmals operiert (an der Kniescheibe, für das Herz hatte man in der Klinik keine Geduld und wenig kardiale Kapazitäten) und einmal inhaftiert. Er hatte sich hoch und tief verschuldet und Gerichtsprozesse verloren. Er war im Laufe seines kläglichen Daseins durch nicht weniger als vier existentialistische Phasen gegangen und hatte in jeder einen Teil von sich gelassen. Er war immer bereit gewesen, sich den Absurditäten des Lebens zu stellen. Aber jetzt, als er in seinem sauberen Bett lag und friedlich vor sich hin atmete, wusste er, er war definitiv am Arsch: Er war glücklich.

Nun ist das für die meisten Leute kein Grund zur Beunruhigung, das hohle Gefühl ständiger Zufriedenheit anfangs höchstens ein bisschen befremdlich, aber der Mensch gewöhnt sich ja an alles. Doch für Jeremiah kam diese Leichtigkeit einem endgültigen Todesurteil gleich: Er hatte in seinem ganzen Leben alles von Wert aus Schmerz gezogen. Er brauchte den Schmerz, um gegen ihn anzukämpfen, er brauchte das Gefühl, ganz alleine zu sein mit ihm und das Gefühl, es nie mehr sein zu wollen. Schmerz hat immer das erste Sagen, dann kann man sich an ihm abarbeiten; mit dem Schmerz fängt alles an. Und solange er durch seine Adern rollte, gehörte der Schmerz ganz ihm. Er hatte sie immer gehasst, aber er konsumierte seine Qualen wie ein Junkie den Schuss. Auch ein Drogenabhängiger mag kein Heroin. Aber unglücklich sein, Apathie bis zum Absinth, Verzweiflung und Wut, das war seine Sache, das konnte er gut. Wir dürfen uns Jeremiah nicht als einen unglücklichen Menschen vorstellen.

Und da lag er jetzt auf der sauberen Bettwäsche wie in einem zerschossenen Kriegsgebiet und fragte sich, wie um aller Welt er hierhin gekommen war. Er hatte hier immer hingewollt, klar, es war sein Ziel gewesen – aber er hatte sich verdammt Mühe gegeben, es nie zu erreichen. Er stand auf, selbst das ging ohne Schmerzen. Prüfend klopfte er auf sein linkes Knie, das kaputte; es hielt stand. Jeremiah blickte auf seine Hände, die ruhig an seinen Armen herunterhingen wie Blätter von knochigen Ästen, kurz bevor der Sturm kommt: kraftlos, aber gefasst. Dann nahm er seine Fingerknöchel, steckte sie sich in den Mund und biss einmal kräftig zu, als würde er in einen sauren Apfel beißen. Es zwickte und fing leicht an zu bluten, aber Jeremiah war nicht zufrieden. Das würde ihm nicht den Arsch retten, sich jeden Morgen in die eigene Hand zu beißen wie ein Verrückter; er wollte ja nur seine Qualen zurück, nicht die alte Peinlichkeit. Beinahe leichtfüßig schleppte er sich ins Bad. Er betrachtete die weißen Porzellanschüsseln, die Armaturen aus Stahl, die passenden Handtücher, alles gemeinsam gekauft wie ein statistisches Ehepaar, und wich dem Blick der Kloschüssel aus, die ihn jeden Morgen anblickte wie kalkgewordener Verrat - man hatte ihm den Fels genommen und an seinen Platz ein spülrandloses Becken aus Keramik gestellt. Jeremiah öffnete das Badschränkchen, wich auch dem Blick im Spiegel aus, und klappte sein Gesicht so schnell wie möglich auseinander. Hinten rechts in der Ecke fand er eine neue Packung Rasierklingen, steril durfte er schon sein, der Schmerz, nahm eine aus dem Plastik und zog sich damit einmal über den Unterarm.

Es gibt ja diesen Test: Man zwingt Menschen auf einen Stuhl und lässt sie eine Viertelstunde in der Wüste ihrer Gedanken allein. Viele finden es unerträglich; man gibt ihnen die Möglichkeit, die Langeweile zu unterbrechen – mit einem Stromschlag. Die Ergebnisse sind schockierend. Und nichts anderes ist das Leben: ein leeres Zimmer mit einem Stuhl in der Mitte. Jeremiah wählte den Strom."


Bild: Elijjah Hail unter cc0 1.0