Tuesday, October 21, 2014

Wir sind alle Wölfe.

Ein Kampf in drei Akten

"Die Gesichter, die draußen gehetzt vorbeifliegen, sehen aus, als hätten sie den Sommer schon ganz vergessen. Als wüssten sie gar nicht mehr, dass sie vor ein paar Wochen, Tagen sogar noch unter einer fremden Sonne gelegen und sich abends den Sand aus den Ohren gerieben haben. Als könnten sie sich nicht daran erinnern, wie unbeschwert sie waren und glücklich, als schauten sie die entwickelten Fotos nicht mehr an und hätten den Geschmack der letzten Meeresfrüchte längst von den Zähnen geschrubbt. Jetzt tragen sie Herbstmode und missmutige Mienen und führen ihre Resignation spazieren wie einen kläffenden Hund.

Ein kleines Stück Sonne scheint in ihre Schüssel mit Pasta, kleiner noch als der Fetzen Parmesan, den sie gerade konzentriert auf eine Nudel stapelt. Er hat nur einen gemischten Salat bestellt und schiebt jetzt die Blätter von einer auf die andere Seite und genau das ist irgendwo auch das Problem. Sein Blick sucht die Flasche mit dem Balsamico, er findet, rastet ein und lässt sie nicht mehr los. Die Häuser scheinen irgendwie weiter auseinandergerückt zu sein in den letzten Tagen. Sie streiten nicht mehr.

Vorher:
 „Als Kampf wird eine Auseinandersetzung zweier oder mehrerer rivalisierender Parteien bezeichnet, deren Ziel es ist, einen Vorteil zu erreichen oder für das Gegenüber einen Nachteil herbeizuführen“, sagt das Internet. Es ist ein Symptom ihrer Generation, Dinge zu googeln, auf die sie selbst keine Antworten hat, Lücken zu füllen, die sich mit Fertigpizza und 2,69€-Billigwein aus dem Supermarkt nicht mehr stopfen lassen. „Mit Kampf kann auch eine große Anstrengung gemeint sein, mit dem Ziel, sich selbst zu beherrschen, Widrigkeiten zu überwinden oder in einer Situation zu bestehen.“ Nie hat sie sich in einem Wikipedia-Eintrag mehr wiedererkannt. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, Männer seien Hunde und Frauen eine Katze. Später musste sie erfahren, dass sie für die oft nichts ist als ein nett riechender Knochen. Aber langsam dämmert ihr: wir sind alle Wölfe.

Ausweitung der Kampfzone I:
„Es könnte ganz leicht sein“, sagt er. „Es wäre genau das, was dieses beschissene Jahr vollenden würde“, sagt sie und nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Glas mit irgendwas drin. Es zu benennen, würde dieser Geste nur eine Aussage verleihen, die ihr nicht gerecht wird oder umgekehrt, derer sie nicht würdig ist. Rotwein wäre zu dramatisch. Whiskey zu pathetisch, Spezi zu profan. Sie meinen nicht das Gleiche, aber keiner hat Lust, den anderen aufzuklären. Vielleicht war es taktisch unklug, sich in einer Bar zu treffen, in der sie sich alles, was sie sagen wollen, in die schweißmüden Gesichter schreien müssen. Vielleicht war es Selbstbetrug, vielleicht auch ein Klischee. Hinter dem Mischpult zappelt sich ein magerer Jüngling mit Undercut die Seele aus dem Leib, an der Bar der scharfe Typ mit den leicht schiefen Zähnen. Eine kleine Kneipe in der linken Herzkammer von München, gerade noch so unbekannt, dass sie als Geheimtipp durchgeht, aber wer etwas auf sich hält, ist da. Viele halten etwas auf sich in diesen Tagen. Der Tresen klebt, der Boden auch, Bier und tausendundeine durchzechte Nacht hinterlassen ihre Spuren, die wie zufällig in den Raum geworfenen Möbel sind vom Flohmarkt und verkörpern genau die richtige Mischung aus Ramsch und abgefuckter Lässigkeit. Dieser ganze Laden hier ist ein verdammtes Klischee, durchzuckt es sie. Alles passt zusammen.

Nur eins passt nicht, und das sitzt vor ihr, zwischen Feierabendgesichtern und Beziehungsstressvisagen, und jagt arglos seinen Mojito durch den Strohhalm. Sie hasst es, wenn andere ihre Cocktails mit Strohhalm trinken. Strohhalme sind was für Kindergeburtstage und Senioren mit Schluckbeschwerden. Und es nimmt dem unwichtigen und doch irgendwie so bedeutenden Detail seine Größe, dass er gerade den Lieblingsdrink eines der überragendsten Schriftsteller, die je gelebt haben, gedankenlos durch die Röhre der Trivialität zieht. Hemingway hätte kubanischen Rum nie mit einem Strohhalm getrunken. Aber das sagt sie nicht. „Willst du noch einen?“, fragt sie stattdessen und hofft, betet plötzlich, er möge verneinen. Ist es dunkler geworden, seit sie zuletzt geredet haben, haben sich die peinlichen Discokugeln endlich aufgehört zu drehen, als sie fragte - oder bildet sie sich das nur ein? Sein Blick klettert vom versifften Glasrand müde nach oben, und er schaut sie jetzt direkt an, mit einer seltsamen Mischung aus Suff und Enttäuschung. Er wirkt zum ersten Mal angriffslustig, feindselig fast. „Klar trinken wir noch einen“, sagt er und rudert dem schiefzähnigen Kellner mit der Hand ins Gesicht. „Wieso auch nicht.“
Sie wissen nicht mehr wofür, aber sie sind bereit zu kämpfen.

Ausweitung der Kampfzone II:
„Die angreifende Seite wird in der Regel als Aggressor bezeichnet“, murmelt das Lexikon. Der Drucker rattert und stöhnt. Sie zieht das Papier raus, als es noch warm ist und riecht flüchtig daran, so wie andere Menschen am Kopf eines Neugeborenen schnuppern. Kinder mögen sie tendenziell nicht, sie weiß gar nicht genau wieso, ihre Mutter würde wahrscheinlich sagen, sie fremdeln. Mit Druckerschwärze kann sie besser. In Momenten wie diesen fragt sie sich, ob es genau solche Banalitäten sind, die einen am Ende vom Kätzchen zum Wolf werden lassen. Manchmal merkt man doch mittendrin im Gefecht, kurz bevor man fürchtet, man könnte verlieren, dass man eigentlich noch viel mehr Schiss davor hat, tatsächlich zu gewinnen. Aber dann ist es für einen Rückzug zu spät, die Rollen sind verteilt und die Schnitte noch nass. Die meisten Kämpfe führen in die Isolation.

Sie nimmt das Blatt, es ist immer noch warm, und zerreißt es langsam und mit fast kontemplativer Konzentration, bis es in fingernagelgroßen Fetzen über ihre Knie schwimmt. Da ist er wieder, der fahle Geschmack von Verlust im hinteren Rachenwinkel. Sie drängt ihn hastig in den Gaumen zurück und tastet nach ihrem Handy. Scrollt geistesabwesend ihre Kontaktliste durch, saugt sie auf, die virtuellen Gesichter und ihre lächerlich erzwungenen Weisheiten. Da, bitte, ich hab doch Freunde, spuckt sie in die frühe Nacht, die nicht den Anschein macht, als würde sie sich dafür interessieren. Ich könnte mich mit jedem einzelnen von ihnen jetzt noch auf ein Bier verabreden, wenn ich nur wollte. Sie hätte jetzt nicht übel Lust auf ein kühles Helles.

Wölfe sind auch nur Rudeltiere, letzten Endes - solange sich jeder nach drei Bier auf seine Erde zurückzieht. Am Ende kämpft man nur noch für sich selbst. Die Vorstellung vom ewigen Übersiedeln in fremdes Revier wird zur Illusion, zerfällt in den Staub besoffener Tage. Das bittere Gefühl schlängelt sich immer weiter, sie schmeckt es jetzt im ganzen Mund, rollt es mit der Zunge ein, lässt es an die Backenzähne krachen, und schluckt es dann vorne wieder runter, heftig und ein bisschen zu schnell.

Zwei Stunden vorher: frenetischer Applaus zerreißt den Münchner Gewitterhimmel. In der Pause trinken Frührentner in schlecht sitzenden Hosenanzügen überteuerte Cola und sie fragt sich zum neunundzwanzigsten Mal an diesem Abend, was sie hier eigentlich machen. Als wäre ein Kampf weniger erniedrigend, wenn man ihn in hohen Schuhen austrägt. Stattdessen kommt man sich vor wie der Statist einer Schmierenkomödie, von der alle anderen behaupten, es sei ein Drama von Brecht. Aber mit diesem Zug hat er die Kampfzone systematisch ausgeweitet, er geht jetzt zum Angriff über, erobert sie auch im Innenraum. Flucht beim letzten Beifall. Sie nimmt ihren dünnen Mantel entgegen und legt der Garderobenfrau einen Euro in die geöffnete Faust. Ich weiß ja, wie sich das anfühlt, sagt ihr Lächeln, zaghaft, aber bestimmt. Ich hab auch mal als menschliches Jackenkarussell gearbeitet, wobei das mit dem menschlich bei den meisten ja so eine Sache ist. Hol mich hier raus, flüstern ihre Augen, die schwer sind von Wimperntusche und zu viel Weißwein in der Pause.

„Kommst du?“ Er ist zur Stelle, natürlich. Legt ihr einen Arm um die Hüfte und schiebt sie sanft in Richtung Treppen. Sie muss sich ein bisschen am Geländer festhalten, verdammter Wein, aber das bringt ihn zum Lachen. Sie ist überrascht, wie gut er das kann. Fast als machte er das nicht zum ersten Mal. Sie wankt noch ein bisschen mehr, klammert sich etwas fester als nötig um den mit Plüsch bezogenen Handlauf, auch wenn der wahrscheinlich voll ist von Flöhen, es juckt sie schon bei der bloßen Vorstellung, aber sie kann sich gerade noch beherrschen, sich jetzt am Kopf zu kratzen. Von der letzten Stufe gelingt sogar ein kleiner Sprung. Hoffnung,  damit ihr komödiantisches Talent endgültig unter Beweis gestellt zu haben, ein kurzer und sehr peinlicher Anflug von Stolz. Sie schielt auf ihren Fluchtpunkt. Er lacht, aber irgendwie nur unterhalb der Nasenspitze und scharrt mit den Füßen. Draußen schneidet Frühherbstkälte scharf durch die Luft. München ist müde - sie auch.

Ob er noch mitkomme, fragt sie dann, rein aus Formalitätsgründen, sie kennt die Antwort, sie liegt dort drinnen auf dem Grund der Plastikbecher, verschüttet vom Wein. Sie macht es ihm damit eigentlich sehr einfach. Die üblichen Ausreden liegen alle in mundgerechten Häppchen bereit, die Ich-muss-morgen-früh-raus, die kleine Schwester Müdigkeit, auch die für Fortgeschrittene, irgendwas über Zopiclon HEXAL und Klamotten zum Wechseln. Er geht auf Nummer sicher und wählt die Zwei. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, als suchten sie dort nach Gold oder vergessenem Geld, drückt er ihr etwas auf den Mund, irgendwas zwischen Kuss und feuchter Luft mit Spucke, dreht sich um und geht. Sie schwankt ihr betrunkenes Ich alleine zur Tram. Über ihr läuft Rigoletto zum vierten Mal an den Vorhang und lässt sich vornüber fallen. Das überschminkte Gesicht der Oper ist eine Fratze und sie lacht ihr von allen Seiten dreckig ins Gesicht.

Ausweitung der Kampfzone III:
„Die Gewalt zwischen Israel und der im Gazastreifen regierenden Hamas dauert an. Die israelische Luftwaffe griff in der Nacht erneut Ziele in Gaza an“, trägt der Nachrichtensprecher mit schräg gestreifter Langweiler-Krawatte seine Sätze ohne große Leidenschaft in die Kamera. Überall herrscht Krieg, denkt sie, und keiner weiß, wofür. Auf einmal hat sie Lust, die Worte auszusprechen, einfach um zu wissen, ob sie tatsächlich so klug chiffriert und theatralisch klingen wie in ihrem Kopf. „Manchmal fühle ich mich wie Palästina“, sagt sie in die Atempause von Thorsten Schröder hinein und bereut es noch im gleichen Augenblick. Es klingt weder klug noch theatralisch, nur beschissen geschmacklos und noch dazu politisch inkorrekt. So könnte auch ein Song von Xavier Naidoo beginnen. „Was meinst du?“, murmelt er, ohne die Augen vom Bildschirm zu kratzen. „Manchmal fühle ich mit Palästina.“ Peng, Rückzieher. „Also, das muss man schon ein bisschen differenzierter sehen“, holt er auch schon aus. Pengpeng, linker Haken. Etwas fällt in ihr zusammen. Sie hatte sich das so gut zurechtgelegt alles, die Rede über Territorialisierung und Deterritorialisierung und das ohnmächtige Gefühl, erobert zu werden, die gewiefte Analogie ihrer irrationalen Angst zu einem besetzten Landstreifen zwischen Jordan und Mittelmeer. Sie hatte den Bogen geschlagen wie eine Figur im Kunstturnen und sauber auf der gegenüberliegenden Kante aufgesetzt. Eigentlich alles richtig gemacht. Aber gewackelt bei der Landung.

„Mag sein, dass die Palästinenser dort zuerst ihren Raum hatten, und klar, in einem Kampf gilt es auch, sich zu behaupten. Aber Raketen als Druckmittel abzufeuern und israelische Soldaten gefangen zu nehmen, wie die Hamas es tut, halte ich für kopflos. Auch wer abwehrt, kämpft. Die haben jetzt einmal angefangen, und können nicht mehr aufhören, bis alles in Schutt und Asche liegt“, sagt er und kratzt sich vielsagend am Kinn. Wichtige Worte sollten immer von nebensächlichen Gesten begleitet werden, das verleiht ihnen eine gewisse Lässigkeit. Sie nimmt sich vor, bei ihrem nächsten Bewerbungsgespräch beiläufig eine Banane zu schälen. „Aber ich fürchte, so wird es nie zu einer Lösung des Konflikts kommen, die einen schleudern Bomben, die anderen schmettern dagegen, und irgendwann kann man nicht mehr sagen, wer das Ganze angefangen hat. Was wir brauchen, ist eine Zwei-Staaten-Lösung.“ Er scheint zufrieden mit seinen Ausführungen und der politisch wertvollen Pointe und lässt sich etwas erschöpft in die angeranzten Sofakissen fallen. Ja, denkt sie und schließt die Augen, als würde sie gleich unter Wasser abtauchen, die Ohren dicht, den präfrontalen Cortex versiegelt. Genau das ist es, was wir brauchen. Eine Zwei-Staaten-Lösung. 

Nachher:
„Krass, dass der Sommer jetzt schon wieder vorbei ist“, sagt sie, dehnt die Worte und den warmen Käse auf ihrer Gabel und sieht ihm beim Nicken zu. Sie wissen beide, was sie damit eigentlich sagen will. Krass, dass das mit uns beiden jetzt schon wieder vorbei ist. Die Luft riecht nach frittiertem Essen und Verlust. Der Kellner war schon lange nicht mehr an ihrem Tisch, als hätte er Angst, ihr einträchtiges Unbeholfenheitsballett zu stören. Sie machen schweigend weiter, eine stapelt, der andere schiebt. Sie wissen auch, der eine so gut wie die andere: es war schon lange vorbei. Aber etwas ist anders an diesem Tag Ende August, nicht nur die Getränke. (Sie trinkt stilles Wasser, er Cola, ohne Strohhalm). Sie kämpfen nicht mehr. Was folgt, ist die Zwei-Staaten-Lösung. Waffenstillstand."



Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Saturday, October 18, 2014

Fragmentarisch Frieren.


 
"Er inhaliert und stößt kalten Rauch aus, die Augen hängen ihm starr im Gesicht. Ist das der Alkohol oder schon die erste Regieanweisung? Sie steht da mit leeren Händen und feuchten Haaren und weiß nicht wohin mit ihrer Unbeholfenheit. Um sie herum nur noch die Leute, die nüchtern und erhobenen Hauptes über die Samstagabendleichen steigen und die, die an Hauswänden wanken und dabei sind, die nächsten Leichen zu werden. Wir passen nicht dazu, sind weder die einen noch die anderen, denkt sie, wir sollten hier gar nicht sein.
Er zieht immer noch, wirkt fast verzweifelt, wie er da steht, in seinem T-Shirt, das ihm im Nachtwind um den Rücken flattert und an der Zigarette saugt. Warmer Elektro weht aus dem Club herüber und fährt ihr quer durch den Körper. Es tut gut, das erste Mal seit langem und sie stellt fest, dass sie eigentlich ganz gerne wieder reingehen würde. Tanzen, vielleicht die Arme in die Luft werfen, oder irgendwas Übertriebenes, und Schnaps aus kleinen Gläsern stürzen. Den anderen verkaufen, dass man vollkommen gelöst ist und sich das irgendwann selber glauben. „Hm, und jetzt?“ Er legt den Kopf schief, ganz leicht nur, als wäre ihm die Welt auf den Ohren plötzlich zu schwer geworden. Sie hasst es, wenn er sie so anschaut. Sein Blick ist dann ganz voll von Dingen, einige versteht sie und die meisten gar nicht, und sie hasst sich dafür, dass sie das so liebt. Manchmal muss er sie nur so anschauen und alles wird heller.
Vielleicht reicht das, denkt sie manchmal. Wenn jemand sowas kann, muss er vielleicht nicht mehr kochen können, braucht nicht geduldig sein und darf beschissene Musik mögen. Vielleicht muss er nicht mal besonders nett sein. Ein schiefes Lächeln kann manchmal die ganze Welt gerade rücken. Plötzlich hat sie unfassbare Lust auf ein Rosinenbrötchen. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, flüstert er zwischen zwei Zügen und streicht ihr so vorsichtig eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht, dass ihr ganz anders wird.
Du musst jetzt was antworten, denkt man nach einer viel zu langen Zeit aus Luftanhalten und Stille. Neben ihr erbricht sich ein pickeliger Blonder mit Gelfrisur auf seine Schuhe, die Kumpels lachen sich kaputt. Lass dir was einfallen, erinnere dich, du wolltest doch so viel sagen und jetzt ist der Moment, du musst nur noch ablesen, hör auf dein Gefühl und sag, was ist und wie es sein soll. Als sie den Mund aufmacht, schwimmt ihr scharfe Luft in den Rachen. „Hat um die Zeit noch ein Bäcker auf?“ Sie hätte doch so gern ein Rosinenbrötchen."




Bild: Leo Hidalgo (flickr.com) unter cc by 2.0

Tuesday, July 29, 2014

26 297 481,3 Minuten.

"Wie eine Drogensüchtige zwischen dem dritten und letzten Schuss fährt sie auf dem kleinen Kofferradio entlang, sucht mit zitternden Fingern den An-Knopf. Drückt ihn. Irgendein beschissener Radiosender sendet beschissene Musik, zwischen dröhnendem Rauschen und Verbindungsstörungen kriechen Fetzen von Bryan Adams in ihren Gehörgang. Meatus acusticus externus heißt der auf Lateinisch, das hat sie irgendwo mal gelesen. In einer Fachzeitschrift für Belesene Eremiten. Oder in einem Infoblatt über Tinnitus. Ja, gut, vielleicht hat sie es auch heimlich gegoogelt. Jedenfalls macht es ihr für diesen einen Augenblick nichts aus, Everything I Do in ihrem meatus acusticus externus. Alles ist besser als diese Stille, diese alles umfassende Leere, die sie Tag für Tag ein Stückchen fester umklammert, deren kalten fauligen Atem sie immer näher spürt.
An einem dunklen Abend, finster wie Asche, murmelt ihr Taschenrechner, dass sie noch ungefähr 26 297 438,3 Minuten zu leben hat. Was auf den ersten Blick viel aussieht, ist verdammt wenig, wenn man sich überlegt, dass man in einer Minute sehr beschäftigt damit sein kann, etwa fünfzehnmal zu blinzeln und sich gleichzeitig auf eine regelmäßige Lungentätigkeit zu konzentrieren. Man muss bedenken, dass in dieser einen Minute auch noch fünf Liter Blut durch den bildschirmschlaffen Körper gepumpt werden müssen. Und wenn man nicht gerade schläft, bewegen sich auch noch irgendwo hinter dem Ohrläppchen irgendwelche Muskeln.
In sechzig Sekunden bleibt neben basislebenserhaltenden Maßnahmen also gar nicht viel Zeit für betrunkene Eskapaden, große Worte und ein Ferienhaus auf Teneriffa, oder was auch immer es ist, was sich normale Leute so unter einem erfüllten Leben vorstellen. Diese Informationen zu recherchieren hat sie auf jeden Fall schon mal locker sieben Minuten gekostet. Bleiben also nur noch 26 297 481,3, um all das zu schaffen, was sie immer noch machen wollte. Auch wenn sie keine Ahnung hat, was am Ende wirklich davon bleibt - vielleicht macht es zum Beispiel nicht viel Sinn, Hebräisch lernen zu wollen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ihr Sargnachbar mal aus Tel Aviv kommen wird. Sie stellt es sich schwer vor, unter der Erde dreifache Pirouetten zu drehen. Und was bringt einem Geld? Selbst Gucci sieht beschissen aus an Skeletten.
So gesehen ist die Zeit also doch wieder ganz schön lang, die man nur dafür nutzen kann, Sauerstoff ein- und Kohlenstoff wieder auszuatmen und nebenbei ein bisschen mit den Wimpern zu wackeln. Nur um nach genau 26 297 481,3 Minuten einfach wieder damit aufzuhören oder eben ein bisschen früher oder erst später, vielleicht.
Die Minuten vergehen. Es ist immer noch dunkel wie unter einem Labyrinth metallkühler Bahngleisen. Das einzige Licht im Zimmer kommt von dem winzigen roten Punkt auf ihrem Akkulader und dem kleinen Stückchen Vollmond, der sich in der Küche ganz unkonventionell auf dem Rand einer Bratpfanne spiegelt. Ein Album mit Queen oder auch der Queen aufnehmen, ein Mittel gegen Krebs und schlimme Kater erfinden, diesem einen Menschen endlich sagen, dass man ihn immer ein Tausendstel mehr gernhaben als hassen wird. 131 487 406,5 Liter Blut, 394 Millionen Wimpernschläge. Es gibt verdammt zu viel, was man tun könnte in sechsundzwanzig Millionen Minuten. Sie zieht sich aus und legt sich quer übers Bett."


Bild: porschelinn (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Friday, June 20, 2014

Linie 17.


"Leicht genervt und viel nüchterner als sie gehofft hatte, stolpert sie aus dem Club in die Novemberschwärze. Es ist eine ganz blöde Uhrzeit, um die Biege zu machen, das fällt ihr erst jetzt auf. Es ist so spät, dass alles, was draußen rumläuft, schon komplett besoffen ist und nur noch wenige Körperfunktionen selbstständig steuern kann, aber so früh, dass zerbrochene Bierflaschen und erbrochene Drinks immer noch überall auf dem Gehweg kleben. So spät, dass die letzte U-Bahn längst gefahren ist, aber so früh, dass die nächste erst in ein paar Stunden kommt. Es ist dieses samstagnächtliche Wurmloch, in dem einem selbst der öffentliche Nahverkehr das Gefühl gibt, dass man irgendwas total falsch macht im Leben. Man sollte gerade Spaß haben, sich die Luft aus der Lunge tanzen, die Zellen und Ängste aus dem Gehirn trinken, alles, nur nicht nach Hause fahren. Im dunklen U-Bahn-Schacht kommen ihr zwei Typen entgegen und werfen ihr irgendeinen dummen und wahrscheinlich ziemlich sexistischen Spruch ins tanzverschwitzte Gesicht. Sie macht auf arrogante Eisprinzessin und irrt fluchend zwischen Oberfläche und Unterführung hin und her. Laufen würde schneller gehen. Aber ihre Fußballen in den Stiefeletten brennen wie Feuer und den Weg weiß sie irgendwie auch nicht genau. Die Tram kommt in 27 Minuten. Sie lässt sich auf einen kalten Sitz fallen, und bemüht sich, nicht zu heulen, während sie ihre Ohrstöpsel entwirrt. Sie weiß gar nicht genau, wieso sie heute Abend so schlecht drauf ist. Wieso sie alleine um drei aus dem Club geflüchtet ist, obwohl alle ihre Freunde noch auf der Tanzfläche geblieben sind. Vielleicht, weil mal wieder alle unverschämt viel Spaß hatten und sie zwischen drei guten Songs außer Musik, Müdigkeit und der immer gleichen Melancholie nicht viel gefühlt hatte.

Sie dreht an ihrem ipod-Rädchen auf ganz rechts ganz laut und schaut auf die schwarze Straße vor sich, als könnte ihr dort irgendwas weiterhelfen, ein lebenskrisenerprobter Igel vielleicht. Noch bevor das erste Lied zu Ende ist, nähert sich ein Kerl. Er sieht gut aus, das sieht sie sofort. Wahrscheinlich eine Angewohnheit, wenn auch eine ziemlich weitläufige, aber sie kann Typen mittlerweile in Sekundenschnelle abscannen, auch im schüchternen Licht einer Straßenlaterne, angetrunken um drei Uhr nachts. Blonde Haare, ein paar Bartstoppeln, nichts fällt aus dem Rahmen, diesmal. Ihre ganze Bank ist leer, die anderen drei auch. Er lässt sich genau auf den Sitz links neben sie fallen. „Hey“, sagt der Typ. Sie dreht die Musik leiser. „Hi“. „Ich bin Paul“. Sie steckt den ipod in die Tasche. „Lilith“."


Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0