Sunday, September 29, 2013

Endstation Haltestelle.

"Manchmal muss man sich damit abfinden, dass der Zug abgefahren ist. Muss endlich einsehen, dass er keine Verspätung hat, nicht durch Umwege nur etwas länger braucht, auch nicht durch einen Baumstamm auf den Gleisen aufgehalten wurde, sondern einfach nicht mehr kommen wird.
Man kann es sich auf den kalten Bänken der Bahnstation, die wie alle Bahnhöfe nach Bier und Pisse stinkt, bequem machen, mit anfänglich gehetzten und bald lethargisch-desolaten Augen die leuchtenden Anzeigen nach dem Zielort absuchen und den Rest der Menschen beobachten, wie sie zielstrebig Koffer ziehen und Taschen schultern, in Züge steigen und Ziele erreichen. Man kann sich sein Leben in dem grauen Bahnhofsgebäude einrichten, seinen Tag nach dem Flimmern der Anzeigentafeln ausrichten und Zuversicht aus klammen Pappbechern trinken.
Man kann aber auch einfach in den nächsten Zug einsteigen und irgendwann wieder aussteigen: entweder man kommt irgendwo an, wo man vielleicht glücklich werden könnte oder der nächste Bahnhof ist zumindest ein bisschen weniger grau. Das tun die Mutigen. Man kann auch aufstehen, den Bahnhofsmief von den Klamotten klopfen, sich bestimmt umdrehen und gehen. Das tun die Realistischen.
Aber sie war leider weder mutig noch realistisch. Sie war feige und glaubte an alles, nur nicht die Wahrheit. Erstickte an ihren Ängsten und ertrank in ihrer Illusion. Sie flüchtete sich in utopische Sphären, verlor sich in den Wirrungen erdachter Fäden. Ein Netz, in dem man noch was auf Fahrpläne gab, eine Art Paralleluniversum, in dem sie nicht immer zu spät kam und ihrem Zug nur noch keuchend hinterherschauen konnte. Also blieb sie sitzen und tat das, was sie am besten konnte: warten. Sie wartete auf etwas, das längst vorbeigerauscht war, sie antizipierte die Vergangenheit in der Gegenwart und auch wenn sie längst erkannt hatte, wie absurd das war, verharrte sie wie eine eiserne Skulptur auf ihrem Platz, besetzte und verteidigte ihn. Wenn sie den Zug doch nicht verpasst hatte, würde sie die Erste sein, die aus ihrem komatösen Zustand zwischen Wachen und Warten aufspringen und zusteigen könnte. Und bis dahin würde sie auf der unbequemen Bank sitzen, bis sie sich selbst nicht mehr spürte, und Pappbecher vom Kiosk nebenan leeren: Kaffee kalt mit aufgeschäumter Hoffnung und zwei Stück Zucker."
 
 
Bild: Hauptillusionator (flickr.com) unter cc by-nc-nd 2.0

Saturday, September 14, 2013

Hundertachtzig Gramm Stille.




"Sie saß stumm auf der Bettkante, die bloßen Füße auf dem kalten Fußboden, und zupfte an der Haut an ihren Fingernägeln herum. Das machte sie immer, wenn sie unsicher war. Sie war oft unsicher in letzter Zeit. Deshalb sahen ihre Hände auch wie Kinderhände aus, aufgerissenen, abgekaut, oft sogar blutig. Sie suchte seinen Blick nicht, betrachtete stattdessen die Wand gegenüber so eingehend, als ob jemand dort ein Suchbild mit der Antwort auf alle ihre Fragen hingepinselt hätte, vertiefte sich in ihre Farbverläufe, verlor sich in ihrer Musterung. Die Wand war weiß.
Sie musste daran denken, wie sie sich früher immer gewünscht hatte, endlich erwachsen zu sein. Wie sie mit imaginären Autoschlüsseln herumgespielt und über Dinge wie Nescafé und Dispotzinsen geredet hatte. Es war ihr immer so erlösend vorgekommen. Endlich frei. Aber es stellte sich heraus, erwachsen werden war nicht so leicht, wie man sich das vorgestellt hatte. Es war sogar verdammt schwer. Sie wusste bis heute nicht so genau, was Dispotzinsen sind. Und noch viel weniger, ob das überhaupt wichtig war. 
Was sie schon immer an Kindern geliebt hatte, war ihre Ehrlichkeit. Sie reden nicht um eine Sache herum, sie versuchen ein Pflaster nicht mit viel Wasser langsam von der Haut zu lösen, sie reißen es mit einem kurzen Ruck einfach ab. Ehrlichkeit ist oft verletzend. Aber sie bevorzugte den heftigen und gewissen Schmerz, dem sie sich ganz hingeben konnte, gegenüber der quälenden Unsicherheit. Der ständige Gedanke, dass es gleich wehtun wird, ist unerträglich, wenn man nicht weiß, wann dieses gleich ist. In zwei Minuten? In drei Tagen? Doch erst in einem Jahr? Oder kommt man vielleicht doch noch ungeschoren davon? Man kommt es eh nie, das hatte sie inzwischen gelernt.
Vielleicht war es ihr persönlicher Fluch, dass sie immer aus der Zeit fliehen wollte, in der sie gerade feststeckte. Als Kind war die Welt der Erwachsenen immer ein stummes Versprechen gewesen, endlich das Leben zu führen, das man sich selbst ausgesucht hat. Wie oft hatte sie sich gewünscht, groß zu sein, eigene Entscheidungen treffen und mit Autoschlüsseln klappern zu können.
Und jetzt hatte sie das Gefühl, seinen gequälten Blick so bleiern auf sich zu spüren, dass sie weiter versuchte, ihren Blick nicht von dieser unerträglich langweiligen Wand zu wenden. Die Wand starrte sie zumindest nicht so vorwurfsvoll an, an ihr prallte einfach nur alles ab. Die Stille war so schwer, dass sie glaubte von ihr erdrückt zu werden.
Kann Stille schwer sein? Wie kann das Fehlen von Worten schwerer wiegen als Worte selbst?
Eine weitere Frage, zu der sie keine Antwort wusste. Sie schien nicht viel zu wissen in diesen Tagen, sie erkannte nur, dass diese Stille mehr aussagte, als es Worte je könnten.
Das wussten sie beide. Im gleichen Moment. Wahrscheinlich hatte er es noch einen Augenblick früher als sie gemerkt.
Sie merkte es daran, dass er nicht mehr da war, als sie ihren Blick endlich von der Wand wandte."