Saturday, January 10, 2015

Keiner hatte Krebs, sie war Löwe.

"Am Straßenrand neben dem Supermarkt klebt eine Kotzlache, ein dichter Haufen mit groben Enden, ein paar Spritzer eilig rundherum verteilt. Das Ganze erinnert irgendwie an ein zeitgenössisches Gemälde. Oder vielleicht sieht auch einfach moderne Kunst mittlerweile aus wie Kotze. Was dieser Gedanke mit dem späteren Vorfall zu tun hat, ist jetzt noch unklar. An diesem Dienstag hebt sie erst mal die Beine leicht an und steigt über den Fleck hinweg. Versucht, nicht einzuatmen, tut es aber dann doch, einer Art masochistischen Neugier folgend.

Es sind Menschen, dachte sie montags, als sie sich in den Laken zusammenkrümmte, es sind Menschen, die sich gegenseitig kaputt machen. Das Betttuch schmeckte nach nassem Salz. Es gab bei den meisten keine äußeren Faktoren der Destruktion, sie machten tagsüber irgendwas, sie hatten Geld und Gouda für abends, sie waren im großen Ganzen alle gesund, keiner hatte Krebs, sie war Löwe. Was ist also Ursache für die ganze Scheiße?

Die Linie 3 riecht nach Schweiß und geistiger Verwesung. Um sie herum käsig-verkabelte Gesichter, im Türglas spiegelt sich ihre eigene Interpretation. Zu Tausenden rumpeln wir voran, wie Schweine in ‘nem LKW zum Schlachthof. Im Bauch der U-Bahn sind wir alle gleich, stammeln Oliver und Axel aus dem Kabel. „Schau mal in deinen Taschen nach“, pustet ihr jemand von hinten ins Ohr. Ihre Nackenhaare streift ein bitterer Wind. Eine Mischung aus Fremdheit, Wermut und Absinth. Wermut? Oder Wehmut, denkt sie noch. In unbekannten Situationen kommen ihr die absurdesten Gedanken. Als sie sich umdreht, blickt sie in zwei blaugraue Augen, klein und fest wie Kieselsteine. Der Mann, der ihr gerade seine Epiphanie per Tröpfcheninfektion ins Ohr speicheln wollte, trägt filzigen Bart und Fahne, er riecht nach siebzehn Tagen ungeduscht. Nur seine Augen sind wie poliert, kalt und ganz klar. Die Augen als Spiegel der Seele, was für ein beschissenes Klischee, das ist ihr erster Gedanke. Klingt so armselig, als hätte sich das jemand nur ausgedacht, um es schreiben zu können. Wehe, der will mit mir jetzt über Gott reden, denkt sie als Zweites und sucht das volle Abteil hilflos nach anderen Opfern ab. Dass die mittlerweile nicht mal vor Zugtüren Halt machen. Sie entscheidet sich, den Fremden nur müde anzuschauen und zuckt zur Bekräftigung ihrer finanziellen wie spirituellen Ohnmacht noch mit den Schultern. Er ist schlussendlich kein Zeuge Jehovas. Die Frage ist, ob er überhaupt was bezeugen kann außer den fatalen Auswirkungen von Alkohol auf Farbe und Elastizität menschlicher Haut. Erst als der Penner aussteigt, fällt ihr ein, was er gesagt hat und sie lässt drei Finger in die Manteltasche wandern. Sie fühlen: nichts.

Es gibt keinen Anlass für die Hölle. Und trotzdem ist sie da; nicht unbedingt als Ort, aber doch als diesiger Raum, ohne feste Grenzen. Denn Eines merkt man nicht erst zu sechs Uhr feierabends in der U-Bahn, aber vielleicht besonders dann: Die Hölle, das sind die Anderen. Und es ist echt ein Jammer, dass Sartre diesen Satz schon gesagt hat, denkt sie, greift an die kühlen Metallhebel und lässt sich auf den Bahnsteig kotzen. Das wäre mir auch eingefallen."



Bild: Mario Calvo unter cc0 1.0