Monday, August 03, 2015

Schwarz-Weiß.


erschienen in der Anthologie des Superpreises für Literatur (Verbrecher Verlag, Berlin)

"An den Seiten ist Sacré Cœur kohlrabenschwarz. Zuerst und von weit weg sieht man immer nur die weiße Pracht, die sich über Paris aufschichtet wie frisch geschlagene Sahne; man muss sich die Zeit nehmen, darum herumzulaufen, um die verbrannten Flecken zu sehen. Ist es mit Menschen nicht auch so, denkt sie und schluckt und schmeckt Enttäuschung und Erleichterung und Hunger und läuft weiter.

Stiefel im Schnee. Ein Knirschen. Die gellenden Schreie der Mutter, Koffer mit offenen Mäulern. Männerstimmen, die die Winterluft zerreißen, Fenster bersten. Schreie. Ein letzter Kuss, nie eingelöst. Stiefel im Schnee. Wenn man doch nur vergessen könnte.

„Sie haben Alzheimer, Frau Goldmann“. Es ist nicht immer leicht, wenn Wünsche wahr werden, manchmal ist es sogar ziemlich beschissen. Der Mann im weißen Kittel vor ihr hat ein typisches Arztgesicht, mit scharfen Wangen und Wohlstandsfalten. Er lässt einen Kugelschreiber durch seine Medizinerfinger gleiten und schaut sie eindringlich an, als überlegte er, ob er sie für den folgenden Monolog wie ein Kind oder eher wie eine Erwachsene behandeln sollte. Das Zimmer ist gewöhnlich und bedeutungslos wie ein abgeschliffener Stein, es bietet keine Angriffsfläche. An den Wänden Querschnitte des menschlichen Körpers und die Kinder des Arztes, immerhin noch ganz. Wo ist deine Ehefrau, will sie ihn fragen, hast du Angst, sie aufzuhängen, weil du manchmal davon träumst, genau das zu tun? Sie will sich irgendwo festhalten, aber ihre nervösen Blicke rutschen an den sterilen Oberflächen ab. „Frau Goldmann“, sagt der Arzt eindringlich, es kommt irgendwie dumpf an und gleichzeitig ganz klar. „Wissen Sie, was das heißt, Frau Goldmann?“ Der Arzt hat sich offenbar dafür entschieden, sie wie eine begriffsstutzige Patientin zu behandeln, die nicht ahnt, dass sie sich von nun an den Arsch von einer unterbezahlten Polin abwischen lassen muss. Dass sie dabei zusehen wird, wie sie in sich selbst zerfällt. „Natürlich weiß ich das“, sagt sie, hält sich an der glatten Stuhllehne fest, nur mit den Fingerspitzen, und versucht sich krampfhaft daran zu erinnern, womit sie heute Früh ihr Brot bestrichen hat. Hatte es überhaupt Brot gegeben?

Raue Hände. Dreckige Fingernägel, die sich in ängstlich zitterndes Fleisch bohren. Schreie. Alkohol zieht aus ihren Schluchten, faulig und scharf. Blut auf dem Laken, wie eingebrannt. Stiefel im Schnee.

 Der Doktor redet noch ein paar Minuten auf sie ein, aber sie hört nicht zu, wozu auch, sie wird es ja doch gleich wieder vergessen, das hat er ja selbst gesagt. Dann drückt er ihr ein Faltblatt in die zitternde Hand, „Diagnose Alzheimer“ steht darauf, zwei lachende Senioren werfen ihr und der Diagnose ein debil-vitales Grinsen hämisch ins Gesicht. Sie verspürt das dringende Bedürfnis, sie zu schlagen, aber dann würde man sie erst recht für geistig verwirrt halten und einsperren. Die Gesellschaft mag keine alten Schachteln, die angebissene Perlenketten tragen und auf Reklamemenschen einprügeln. Die Gesellschaft mag Senioren, die sich in die Windeln machen und trotzdem fröhlich von Prospekten lächeln.
„Bis bald, Frau Goldmann. Und viel Glück.“ Der Arzt steht auf und exerziert diesen festen Händedruck an ihr, der Empathie und Selbstvertrauen gleichzeitig suggerieren soll. Es wird schon alles wieder gut, aber da müssen Sie jetzt auch irgendwo alleine durch, sagt dieser Händedruck. Ich stelle nur die Diagnosen. „Danke, Herr Doktor“, sagt sie, überrascht, wie fest ihre eigene Stimme klingt - „Und hören Sie auf, meinen Namen ständig zu wiederholen. Jeder weiß, dass man diese Masche spätestens im zweiten Semester lernt. Guten Tag.“
Draußen surrt Paris unter der Julisonne und trotz allem fühlt sie eine gewisse Ruhe, ein andächtiger Zustand völliger Klarheit. Noch kann sie sich wehren. Die Krankheit wird einem ganz allmählich alles nehmen: das Gedächtnis, den Mut. Die Würde. Ich will nicht vergessen, denkt sie. Lieber nichts als alles. Alzheimer ist ein Dieb, der alles in große Plastiksäcke steckt, den Plasmafernseher und den Goldschmuck der Verwandtschaft, die Haushaltsgeräte und alles Bargeld. Ein Dieb, der nur stiehlt, was dir am meisten wert ist. Und den Dreck zurücklässt. Noch weiß sie, dass sie vergisst und vergessen wird. Aber schon bald wird sie nicht mehr bemerken, dass sie immer die gleichen Fragen stellt. Sie wird wütend werden und aufsässig, wenn man sie wie ein unfähiges Kind behandelt und sich wundern, wieso die fremde junge Frau mit den feinen Haaren „Mama“ zu ihr sagt. Sie wird apathisch werden und den leeren Blick hinter ihrem Gesicht im Spiegel nicht mehr hinterfragen.

„Entschuldigen Sie, junger Mann, wo finde ich denn die Pfirsiche?“ Monoprix hat schon wieder umgeräumt. Der Mitarbeiter zeigt nach rechts, nur wenige Meter neben ihr wartet die Auslage, das Obst schaut sie beinahe vorwurfsvoll an, ein Apfel grinst höhnisch. „Aber Sie haben in Ihrem Korb doch schon einige Pfirsiche“, nuschelt der junge Typ vorsichtig. Die Welle kommt heftig und schnell, ein heißer Strahl aus Scham, aber sie reagiert auf so etwas mittlerweile, ohne groß nachdenken zu müssen: „Wissen Sie, alle meine Enkel kommen dieses Wochenende zu Besuch. Die lieben Pfirsiche, besonders die jüngste. Manchmal isst sie alles weg, ohne dass ihre Geschwister auch nur ein Stück erwischen!“ Dazu stolpert ein hysterisches Kichern aus ihrem Mund. Okay, das reicht, ermahnt sie sich, du übertreibst es, zudem sieht der Mitarbeiter nicht aus, als würde er sich für ihre fiktiven Familienprobleme interessieren. Beschämt reiht sie sich in die Kassenschlange ein und kauft ein Dutzend praller Pfirsiche, von denen sie zehn zu Hause in den Müll kratzen wird. Wie letzte Woche.

Ein dunkler Bart, der an ihrer Wange kratzt. Alles an der Bewegung ist grob, ruckartig. Kaum unterdrücktes Stöhnen. Schreie. Die Augen offen und starr wie verlassene Höhlen, vor dem Fenster zittert die nackte Kastanie im Wind. Stiefel im Schnee. 

 Ihr ganzes Leben hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht als die Fähigkeit zu vergessen. Aber, wie immer kommt die Erkenntnis erst nach dem Fall, integrale Freiheit bedarf immer auch: Kontrolle. Sie schlingert unter den festen Händen der Krankheit, kann nicht auswählen, was sie behält und was vergisst, was sich in ihre Gehirnrinde gefressen hat wie Asbest und was einfach durchs Raster fällt. Kindheitserinnerungen und traumatische Erlebnisse bleiben Alzheimer-Patienten oft erhalten, hatte der Arzt bei ihrem vierten Treffen erklärt, und so stand es auch in dem Faltblatt mit den heuchlerischen Senioren. Auf einem kleinen Spiralblock in der Küche macht sie sich jetzt Notizen. Und jede Woche das Kreuzworträtsel. Ankämpfen gegen das Vergessen, obwohl man sich ihm am liebsten hingeben würde, hineinfallen will in ein Vakuum totaler Taubheit. Pfirsiche werden vergessen, Telefonnummern, Namen, eigentlich alles, was die Identität für andere konstruiert. Aber was bleibt, sind die Bilder. Die Männer. Die Angst, wie Beton auf einem Schwimmer.

Lachen, kehlig und mokant. Etwas zieht an ihren Haaren, sie lässt die Tränen laufen, aber nach innen, alle Organe scheinen zu zittern. Von weit her die Stimme der Mutter. Schritte, die näher kommen, die Treppe rauf, nach Jahren kennt man jede Stufe, jedes Geräusch. Schreie. Falten im Nachthemd. Stiefel im Schnee. Stiefel im Schnee. Stiefel im Schnee. Stiefel im Schnee.

Schweiß überrollt sie wie eine Welle, nein, ein Tsunami, sie keucht, aber es übertönt nicht die Schreie in ihrem Kopf. Die Bilder kommen jetzt immer öfter. Meist aus dem Hinterhalt, es reicht, wenn ihr auf der Straße ein Paar schwarzer Schuhe entgegen schreiten oder der Geruch von klarem Schnaps. Nur noch ein paar Stufen. Der Atem geht stoßweite, aber sie versucht, die Stöße auszudehnen. Wenn ich jetzt umfalle, bin ich ganz alleine. Sie schiebt den Gedanken weg, auch dass sie sich auf dem Weg verlaufen hat, zweimal, konzentriert sich auf die Schritte. Bein heben, vorwärts. Bein heben, vorwärts. Sie hat noch keine Hilfskraft aus Osteuropa, die Blöße will sie sich nicht geben, ihre Rente reicht auch für zehn zusätzlich unberührte Pfirsiche und anderes Obst mit einer Schale aus Scham. Einatmen. Ausatmen. Widersprüche werden sich nicht auflösen, aber vielleicht will sie sich auch gar nicht auflösen. Ihr Atem wird immer ruhiger und zum ersten Mal seit Monaten hat sie den Anflug eines Gefühls der Kontrolle. Alles nehmen, was von mir noch bleibt, denkt sie und fühlt sich seltsam leicht dabei. Dann baut sich die Basilika in ihrer ganzen Zuckerbäckereleganz vor ihr auf: Sacré Cœur, Exil ihrer Ängste. Sie streckt ihre Hand nach der kühlen Mauer aus, betrachtet ihre faltige Hand und die Brandflecken auf dem weißen Kalk und lässt zu, woran sie das alles erinnert: Ein brennend kalter Januartag im Jahr 1945. Auf der harten Erde heben sich, ganz scharf, ein paar schwarze Schuhspitzen ab. Stiefel im Schnee."


Bild: Justin Schier (flickr.com) unter cc by 2.0