Wednesday, May 23, 2018

En construcció.

Barcelona, Mai 2018. 

Grau auf Prisma: An jeder Ecke, die sich nicht immer in Gestalt einer Ecke äußert, trifft man auf neue Formen, Säulen, Bogen, Gänge, Würfel, scheinbar wahllos und doch im Ganzen ein System, kühl wie die Steine, auf denen ich sitze und mich frage, als sich die katalonische Mittagssonne wie irre in den Glasfenstern bricht, ob Gaudí wirklich an Gott glaubte – oder an Licht. 

Und ob das überhaupt einen Unterschied machen würde, ob Basiliken nicht einfach Orte sind, an denen man seinen Fetisch ausleben kann und deren Symbol eben ein Kreuz ist und keine Fessel oder ein Geldschein. Am Ende sind das alles nur Formen mit festen Rändern, und um die Form geht es ja letztlich nie, nur um die Ränder, weil Raum so schwer auszuhalten ist, wenn er nicht begrenzt ist. 

Du bist ein Meisterwerk im Bau, irgendjemand legte den ersten Stein, aber noch bevor du es ahntest, ist etwas in dir erloschen, und jetzt liegt es an anderen, dich zu vollenden. Jeder wird etwas Anderes in dir sehen, die gehetzten Asiaten, die Paare, die sich am ersten Urlaubstag gestritten haben und die, die sich noch am selben Abend verloben, die Familien mit Kindern und die, die hier für eines beten, die Backpacker und Einzelgänger, die verirrten Seelen und leeren Hüllen, sie alle werden in dir ihren ganz eigenen Fetisch ausleben, am Boden, auf allen Vieren, wie Reptilien auf der Suche nach Licht. 

Keiner weiß, wo du hinführst, du bist ein Meisterwerk im Bau. Unaufhörlich sind da fremde Hände, die dich anfassen, unverhohlene Blicke, die dich abtasten; sie benutzen dich. Du bist eine Predigt aus Stein, oder eine Hure am Straßenrand: Du stehst da, lässt alles mit dir machen, inzwischen sind deine Streben zu Salzsäulen erstarrt, du lässt dir alles gefallen – vielleicht willst du gefallen. Dein loderndes Licht zieht sie an, und sie kleiden dich aus; dabei weiß jeder, was hinter den Fassaden geschieht, überall werden Steine verlegt und geschraubt, Passagen abgesperrt, deine Entstehung ist kein Geheimnis, sondern ein Werden im Kollektiv; du bist ein Meisterwerk im Bau.

Vielleicht hat Gaudí weniger eine Ode als vielmehr eine Parabel auf die göttliche Schöpfung geschaffen. Als Sühnetempel der Heiligen Familie wurde die Basilika in Auftrag gegeben, Künstler und Architekten wie Le Corbusier, Walter Gropius oder Dalí waren gegen den Weiterbau. Man ist sich bis heute uneinig, ob der Graben, der zwischen Idee und Ausführung verläuft, ein Fluss ist oder ein Ozean; niemand konnte wissen, wie der Meister seine Kirche weiter geplant hatte. Wir wissen es bis heute nicht. Ist das die eigentliche Sünde? 

Du bist ein Meisterwerk im Bau und täglich mahlen die Maschinen. 



Bild: privat

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