Wednesday, May 13, 2015

Freier Verfall.

 
"Die Tür ächzt ein bisschen beim Aufschließen, als hätte selbst sie genug von dieser Welt. Entnervt wirft sie ihre Sandalen in eine Ecke, die Sonnenbrille in die andere. Hat eh schon wieder einen Riss, aus dem das Glas halb heraus fällt, weil sie immer die billigen an der Straßenecke kauft. An dem Stand, an dem es dieses eine Modell in allen Neonfarben gibt, und für die gleiche Zielgruppe Piercings in den abartigsten Formen. Die gleichzeitig hippen und stillosen Verkäufer dort kauen gelangweilt Kaugummi und nehmen ihren Schein immer mit spitzen Fingernägeln entgegen – als wäre sie diejenige mit dem schlechten Geschmack. Sie nimmt immer die gleiche Brille, immer in schwarz. Vielleicht ist das langweilig - sie setzt eigentlich auf zurückhaltend-stilvoll. Manchmal sind die besten Menschen doch die Leisen.
 
Aber egal in welcher Farbe, die ganzen Klamotten, die Brillen und Schuhe sind doch letzten Endes auch nur dazu da, dass man sich draußen ein bisschen besser in seiner Haut fühlt. Oberflächlichkeit ist manchmal ein wahrer Segen. Es reicht, wenn andere erst nach einigen Wochen oder auch schon Tagen bemerken, dass sie komplett neurotisch ist. Aber wenn sie die Straße entlang federt, mit flatternden Augen und wippender Hüfte, dann genießt sie es, einfach mal so zu tun, als wäre sie ganz bei sich selbst. Vor allem jetzt, zu dieser Jahreszeit. Im Sommer verteilt sie geschmolzenes Lächeln und kühle Blicke wie gratis Cornettos. Zeigt ihre nackten Beine und versteckt die Melancholie hinter selbstgeklebten Sonnenbrillen. Wahrscheinlich wirkt sie dann tatsächlich selbstbewusst statt von Selbstzweifeln zerfressen, ausgeglichen statt auf einer ständigen Berg- und Talfahrt. Manchmal ist ihr fast physisch übel von dem Höhenunterschied. Aber meistens ist sie eh nicht lange himmelhoch jauchzend. Die Luft ist eindeutig zu dünn da oben.
 
Ab 1200 Metern Höhenunterschied wringt sich der Druck auf den Ohren bis ins Gehirn, man erkennt die Signale mittlerweile, das Blut fängt dann an zu rauschen wie ein motivationsmüdes Radio und selbst das überlaufende Gefühlszentrum neben der Brust kann das Vakuum im Kopf nicht mehr auffüllen. Auch Bergsteiger bekommen durch den Sauerstoffmangel beim Aufstieg Konzentrationsprobleme und Denkschwund. Wer will das schon, so ein Hirnödem klingt wirklich öde. Wenn sie ganz oben ist, lässt sie deshalb los. Der Fall ist so kurz, dass sie ihn nicht einmal mitbekommt, und nach dem Aufprall bleibt sie meistens noch eine gute Weile liegen."
 
 

Bild: Jacob Walti unter cc0 1.0
 


1 comment:

Justine said...

Wie immer einfach wundervoll ...