Saturday, September 14, 2013

Hundertachtzig Gramm Stille.




"Sie saß stumm auf der Bettkante, die bloßen Füße auf dem kalten Fußboden, und zupfte an der Haut an ihren Fingernägeln herum. Das machte sie immer, wenn sie unsicher war. Sie war oft unsicher in letzter Zeit. Deshalb sahen ihre Hände auch wie Kinderhände aus, aufgerissenen, abgekaut, oft sogar blutig. Sie suchte seinen Blick nicht, betrachtete stattdessen die Wand gegenüber so eingehend, als ob jemand dort ein Suchbild mit der Antwort auf alle ihre Fragen hingepinselt hätte, vertiefte sich in ihre Farbverläufe, verlor sich in ihrer Musterung. Die Wand war weiß.
Sie musste daran denken, wie sie sich früher immer gewünscht hatte, endlich erwachsen zu sein. Wie sie mit imaginären Autoschlüsseln herumgespielt und über Dinge wie Nescafé und Dispotzinsen geredet hatte. Es war ihr immer so erlösend vorgekommen. Endlich frei. Aber es stellte sich heraus, erwachsen werden war nicht so leicht, wie man sich das vorgestellt hatte. Es war sogar verdammt schwer. Sie wusste bis heute nicht so genau, was Dispotzinsen sind. Und noch viel weniger, ob das überhaupt wichtig war. 
Was sie schon immer an Kindern geliebt hatte, war ihre Ehrlichkeit. Sie reden nicht um eine Sache herum, sie versuchen ein Pflaster nicht mit viel Wasser langsam von der Haut zu lösen, sie reißen es mit einem kurzen Ruck einfach ab. Ehrlichkeit ist oft verletzend. Aber sie bevorzugte den heftigen und gewissen Schmerz, dem sie sich ganz hingeben konnte, gegenüber der quälenden Unsicherheit. Der ständige Gedanke, dass es gleich wehtun wird, ist unerträglich, wenn man nicht weiß, wann dieses gleich ist. In zwei Minuten? In drei Tagen? Doch erst in einem Jahr? Oder kommt man vielleicht doch noch ungeschoren davon? Man kommt es eh nie, das hatte sie inzwischen gelernt.
Vielleicht war es ihr persönlicher Fluch, dass sie immer aus der Zeit fliehen wollte, in der sie gerade feststeckte. Als Kind war die Welt der Erwachsenen immer ein stummes Versprechen gewesen, endlich das Leben zu führen, das man sich selbst ausgesucht hat. Wie oft hatte sie sich gewünscht, groß zu sein, eigene Entscheidungen treffen und mit Autoschlüsseln klappern zu können.
Und jetzt hatte sie das Gefühl, seinen gequälten Blick so bleiern auf sich zu spüren, dass sie weiter versuchte, ihren Blick nicht von dieser unerträglich langweiligen Wand zu wenden. Die Wand starrte sie zumindest nicht so vorwurfsvoll an, an ihr prallte einfach nur alles ab. Die Stille war so schwer, dass sie glaubte von ihr erdrückt zu werden.
Kann Stille schwer sein? Wie kann das Fehlen von Worten schwerer wiegen als Worte selbst?
Eine weitere Frage, zu der sie keine Antwort wusste. Sie schien nicht viel zu wissen in diesen Tagen, sie erkannte nur, dass diese Stille mehr aussagte, als es Worte je könnten.
Das wussten sie beide. Im gleichen Moment. Wahrscheinlich hatte er es noch einen Augenblick früher als sie gemerkt.
Sie merkte es daran, dass er nicht mehr da war, als sie ihren Blick endlich von der Wand wandte."
 
 


3 comments:

Fräulein Unruh said...

Ein wunderschöner und einfühlsamer Text. Gerne viel mehr davon...;)

Tash said...

wow! mir fehlen die Worte...

Iseult said...

danke euch für die lieben worte, ich freu mich immer sehr, wenn texte gelesen, oder sogar gemocht werden!:)