Wednesday, April 27, 2016

Hunger.

zuerst erschienen im Mucbook-Magazin No 5 (Oktober 2015)

„Ich laufe durch einen Wald der Apathie, unter mir knacken die Äste mit müden Knöcheln. Von meiner Faust tropft eine wächserne Flüssigkeit und mein Magen knurrt wie der Bär, den ich damit manche Abende vergeblich jage. Statt Bäumen flirren hier Strichcodes unter hellwarmen Halogenstreifen, langsam taste ich mich vorwärts, einen dunklen Abgrund im Leib, die Lichtung ist das Kühlregal. Jeder Tag ein taumelnder Tanz durch das Alphabet der Selbstbespiegelungen – von Akzeptanz bis Zerrissenheit und wieder zurück und dazwischen liegt oft nur ein Bissen hektisch produzierten Billigfleischs, Hähnchenschenkel, 400 Gramm für 2,99€, heute im Angebot (!).
 
Manche Leute sind nie satt. Ich kann nach einem Abend unter Freunden mit der U-Bahn nach Hause fahren, den sauren Schweiß der anderen einatmen, aber versuchen es nicht zu tun; ich kann also durch einen kleinen Schlitz im Mund Luft holen und von innen dabei zusehen, wie ich zwischen den speckigen, kotzbraunen Ledersitzen der vollen U6 zusammensacke und schrumpfe, vielleicht noch kurz zucke - ich bin eine Schnecke, die über Salz geht. Ich kann täglich tausendundeinen Gedanken jonglieren, gut, manchmal fällt mir auch einer runter, so wie jetzt, aber wenn ich den Mund aufmache, kommt nur warme Luft raus und ein Schinkenbrot wieder rein. Ich will so viel sagen und bleibe doch stumm. Mit diesem hohlen Schmerz unter der Bauchdecke, der danach schreit, den Kopf in den Nacken zu legen und das Leben auszutrinken wie einen Shot Vodka.
 
Mein Leben ist wie das Fragment einer großen Geschichte, ich schreibe hundert Anfänge und einige Enden, aber nie den Mittelteil. Obwohl ich das weiche Mittelstück einer Brezn am liebsten mag, aber darum geht es hier nicht. Oder gerade doch? Manchmal kreist mein kopfsteingepflasterter Tagesablauf nur darum, was ich am Abend kochen soll. Ich denke darüber nach, während ich mir von einem Bildschirm die Augen tränig kratzen lasse, ich denke darüber nach, wenn ich Straßen und Plätze ablaufe und vor allem denke ich darüber nach, wenn ich meinen Löffel in Tiramisu tauche und das Kaffeepulver vor meiner Nase aufstäubt wie eine schwarze Lawine. Manchmal nehme ich den Ausdruck „hungrig sein auf das Leben“ ein bisschen zu wörtlich, ich hatte einmal diesen Albtraum, aufzuwachen und festzustellen, meine Wohnung ist nicht mehr da - weil ich sie aufgegessen habe. Ich habe einen Tisch in meinem Apartment, aber sitze nie daran. Die Tischdecke habe ich neu gekauft, sie riecht nach Fabrik und Plastik, und Fertiggerichte aus der Mikrowelle schmecken auch so, deshalb esse ich immer vor dem Fernseher und schaue die Gabel nie an. Großstadttristesse ist ein alter Hut und trotzdem tragen ihn so viele.“ 



Bild: Daniel Parks (flickr.com) unter cc by-nc 2.0

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