Saturday, May 06, 2017

Bitte München, werde endlich mal richtig krank.

Wenn ich an München denke, kriege ich das Gefühl, jemand schnürt mir die Luft ab; legt mir die Hand auf die Kehle und drückt zu. Aber genau so, dass immer noch ein kleiner Stoß Sauerstoff seinen Weg in die Lunge findet – gerade so, dass es zum Leben reicht. 

München hat die besten Ärzte, ist aber klinisch tot. Wird beatmet von Lifestyleblogs und Pop-Up Stores, die nicht wissen, dass sie alles nur noch schlimmer machen und zwangsernährt von Wirtshäusern und Bierhöllen, weil das eben schon immer so war. Tradition ist nicht immer Tugend, sondern manchmal einfach Einfallslosigkeit. Neulich war ein Freund aus dem Québec zu Besuch in München, wir hatten Glück mit dem Wetter, ich kaufte ihm Pommes von der Gute Nacht Wurst (Bergwolf hatte zu) und Augustiner vom Reichenbachkiosk, wir setzten uns an die von Ausschwärmern vollgespülte Isar und hielten Bier und Füße ins klare Wasser. Er war begeistert, ich dann auch; München hat seine Momente. Aber dazwischen ist das Leben dort ein einziges Wachkoma, eine Stadt wie ein Sedativum. 

Man kann sich nicht einmal gepflegt darüber aufregen, leidenschaftliche Hasspamphlete schreiben wie über die schlachtschiffgraue Hässlichkeit Berlins oder die Menschen in Paris; gegen München zu hetzen ist meistens genauso frustrierend wie die Stadt selbst, die glattgeschleckten Wände der Residenz bieten kaum Angriffsfläche. Wehren sich mit penibler Sauberkeit gegen jegliche Art von fundierter Kritik – München tut dir ja nix. Es ist fleckenlos, wohlhabend und sicher; es hat genau so viel Kulturangebot, um nicht als brach zu gelten, und alle paar Monate macht eine neue Gin Bar auf, weil es unter Lehramtsstudenten jetzt sehr hip ist, auf viel zu kleinen Holzstühlen Dinge zu degustieren, von denen sie nicht betrunken werden. Es ist schwer, gegen diese abartige Vorbildlichkeit anzuschreiben, Max Scharnigg hat es trotzdem geschafft, aber die meiste Zeit trägt München Gore-Tex. Das hilft gegen Regen und Alpenfön, und ist so praktisch wie unschön. Aber Hauptsache nicht krank werden.

Und vielleicht ist das das Problem: München ist nicht krank. Dabei bräuchte es genau das. Muss ja kein Krebs sein, aber zumindest mal eine richtige Erkältung; auf jeden Fall irgendwas mit Fieber. Denn eine Stadt lebt wie eine Existenz davon, dass Dinge passieren, Beulen aufbrechen, Nähte platzen und Wunden zuwachsen. Von Brüchen und Narben. Von Exaltation und Verfall. Aber in München, wo Ekstase in die SAUNA passt, wo Rebellion beim Ordnungsamt angemeldet wird und das Leben wie ein renaturierter Fluss ohne Strom vor sich hin mäandert, ist alles nur noch von Markt und Maschinen beatmeter Stillstand. 

Ist das alles jetzt sehr subjektiv, befeuert von einem individuellen Stadtkomplex und der Tatsache, dass ich in wenigen Wochen mit dem größten Widerwillen aus Paris ziehe? Bestimmt. Ist das alles übertrieben, aufgepeitscht, an den Ecken geschärft, um erstens als definierter Text zu stehen und zweitens kantenlos Teil einer Polemik zu werden? Sicher. Aber dann denke ich wieder an München und fühle die Wände näher auf mich zukommen. 

München ist eine Kreuzung aus Pleasantville und Schöner Neuer Welt: Es passiert nichts wirklich Schlimmes, und nichts wirklich Gutes; aber das ist nicht die Definition einer Stadt mit Puls. Städte müssen dich kaputtmachen, zu Boden zwingen und dann wieder in den Himmel werfen, sie müssen dich anzünden und manchmal verbrennen; München liegt seit Jahren in seiner eigenen Asche und raucht im Biergarten vor sich hin, eine Stadt in dörflicher Benommenheit. Nicht wirklich gesund, aber auch nicht wirklich krank: chloroformiert, anästhesiert, ruhiggestellt. Örtlich betäubt. Was wir haben, ist ein Koma; was es braucht, ist eine Krise. 

Bitte München, werde endlich mal richtig krank. Dann komm ich dich auch besuchen. 




Bild: privat (seltenes Münchner Kammerflimmern, Mai 2016)