Saturday, October 10, 2015

Und dann leben wir und kerben.

frei nach Gilles Deleuze und Félix Guattari, Mille plateaux

Jeder Raum ist zunächst glatt; liegt da, völlig offen und formbar wie ein weiches Stück Wachs. Unendlich. Schutzlos. Und dann leben wir und kerben. Und dann ist die Straße nicht mehr ein unbekanntes Stück Asphalt, sondern der Weg von dir zu einem Anderen. Dann ist die Stadt ein dichtes Koordinatensystem unzähliger Bezugspunkte, werden stumme flache Wände zu sprechenden Apparaten mit Struktur. Dann gehst du nicht mehr zwischen Häusern hindurch und siehst nur das: Häuser.

Plötzlich sind da Biographien hinter Gips und Beton. Du hast dich überall im glatten Raum festgeschlagen, deine Finger ins heiße Wachs gedrückt. Du bewegst dich zwischen fremden Schatten und läufst durch eine Stadt, die sich nur für dich hochgezogen hat. Dann ist da nicht mehr ein leerer Raum, dann verschwinden eindimensionale Fassaden. Du schlägst Kerben an jeder Ecke; und dann ziehen sich deine Linien wie schwarze Schnüre durch den Wind. Dann ist da der Weinkeller, in dem zu tief auf den Grund gekratzt wurde, ist der Club, vor dem du fünf Gin Tonic und die Erinnerung an einen Menschen ausgekotzt hast und dann ist da das Schuhgeschäft, vor dem dir deine Mutter samstags eine geknallt hat. Und du kerbst weiter.


 
 
Bild: Ellen Munro (flickr.com) unter cc by 2.0

Monday, October 05, 2015

90 Grad.

"Das Erste, was ich spüre, als ich die Augen aufmache, ist mein großer Zeh. Gleich danach: die gleichen Zweifel. Manche Leute preschen ja im Fahrtwind durchs Leben, mühelos, einen Arm lässig aus dem Fenster hängend, vielleicht eine Zigarette im Mundwinkel. Manche sind die entspannten Beisitzer, die nur den Soundtrack aussuchen müssen, während sie ein geübter Fahrer sicher über die Schlaglöcher hebt. Ich bin eher das quengelnde Kind auf dem Rücksitz. 

41 Grad, das Auto stampft wie ein Lavakessel durch die Asphaltwüste. Die Sonne ohrfeigt blasse Gesichter erbarmungslos durch die Fensterscheibe, Gurte brennen, Hemden kleben, irgendwo zwischen den Sitzen läuft ein Wassereis aus, als wollte es sagen, Leckt mich doch alle mal, ich verschwinde jetzt. Es läuft keine Musik, weil man mit Phil Collins irgendwie das Gefühl hätte, einem wäre noch heißer, und die zwei müden Menschen vorne haben aufgehört, sich über alles aufzuregen, wahrscheinlich machen sie im Stillen weiter. Ich bin das quengelnde Kind auf dem Rücksitz. „Sind wir bald da?“, frage ich zum vierzehnten Mal in einer halben Stunde und versuche, mir einen Tropfen Eis vom Ellenbogen zu lecken. Ich bin sieben Jahre alt und es ist mir scheißegal, dass die anderen Kinder in der Schule behaupten, keiner käme dort mit seiner Zunge hin. Ich bin ein bisschen zu dick, aber einfach weil ich weiß, dass es das wert ist und wenn ich will, komme ich überall hin, an den Ellenbogen und auch in den Urlaub. Holland, haben meine Eltern gesagt, ist toll, es gäbe dort Meer und verwunschene Wälder, Fahrradwege, Holzschuhe und hervorragenden Käse. Beim Käse hatten sie mich. Wäre ich älter und kein Einzelkind, würde mir vielleicht auffallen, wie erschöpft die Stimme meiner Mutter klingt, als sie sich zu mir umdreht und ihre Worte so beruhigend auf mein Gesicht tröpfeln lässt wie sonst nur unser rostiger Rasensprenger: „Ja, bald sind wir da. Und wenn wir ausgepackt haben, gehen wir ans Meer, okay?“ 

„Wenn Sie den Bericht über das Jubiläum im Krankenhaus fertig haben, gehen Sie doch bitte mal zum Bäcker, okay?“ 41 Grad, nicht einmal einen Ventilator haben diese beschissenen 22 Quadratmeter Nichtigkeitstristesse. Unter meiner schwitzigen Handfläche irrt eine Maus kreuz und quer über den flirrenden Bildschirm, ich öffne eine Alibi-Artikelseite und lese ein Tab daneben heimlich den Wikipedia-Eintrag über fortgeschrittene Geometrie, ich fasse meine feuchten Haare im Nacken zusammen und puste überschüssigen Kohlenstoff in die stickige Luft. Eine Fliege spaziert vom zweiten über den dritten Absatz und ich verspüre den dringenden Wunsch, mit ihr zu tauschen. Ich bin zwanzig Jahre älter und neidisch auf einen Zweiflügler. Ein Praktikum in der Lokalredaktion, haben meine Eltern gesagt, ist eine super Möglichkeit, endlich einen Fuß in die Tür zu bekommen, keiner hat im Feuilleton der ZEIT angefangen. Jetzt sitze ich also in harten Sesseln mit abartigen Mustern und mache das, was man auf Französisch auch „Les chiens écrasés“ nennt, überfahrene Hunde. Gott, ich wäre froh, würde ich tatsächlich über Mordfälle berichten. Stattdessen laufe ich mit einer Redaktionskamera zum vierzigsten Jubiläum der freiwilligen Zeitverschwender und schieße absurd schlechte Fotos, die dann am nächsten Tag auch noch tatsächlich abgedruckt werden. Als ich vom Bäcker zurückkomme und meinen Kollegen, die ich am besten mit der Farbe „beige“ beschreiben könnte, ihre Blätterteigbanalitäten auf den Tisch lege, weiß ich, dass ich morgen nicht wiederkommen werde. Das Billiggebäck ist durch, ich bin es noch nicht. 
Meine auf dem Rückweg sorgsam komponierte Kündigungsrede fliegt trotzdem in den Müll, stattdessen werde ich das abwickeln wie jeder rebellische Protagonist: einfach nicht mehr kommen. Ghosting am Arbeitsplatz, mein innerer Schweinehund wedelt begeistert mit dem Schwanz. Draußen schlägt mir die Nachmittagssonne frontal ins Gesicht, sie kommt mir hämisch vor, als versuche sie, die Menschheit systematisch auszubrennen. Nur ein Hang zum Pathos kann die stoische Indifferenz der Welt und des Wetters uns gegenüber manchmal aufheben, die platte Trivialität dieses Moments. Eine fette Frau mit weniger Klamotten als ihr aus gesellschaftlichem Anstand zustünden, teilt ihn sich mit mir. Ich nicke ihr kameradschaftlich zu, ich war ja auch mal dick, und fließe über die Metallsitze. 
Ich denke an diese Reise nach Holland. An das bestimmte Ziel, das ich vor Augen hatte, während ich den Sitz vollschwitzte, an die Gewissheit, das Meer. Am Bahnhofskiosk kaufe ich ein Bum Bum, streiche mir ein bisschen Softeis auf den Arm, lege die Zunge darüber und warte darauf, dass sich dieser Geschmack von Ankommen im Gaumen ausbreitet. Nichts. Es schmeckt nur nach Kunststoff und unerfüllten Freibadsehnsüchten und die Frau neben mir scheint leicht verstört angesichts meiner unkonventionellen Essentechnik. Macht man das jetzt so, fragt sie sich vielleicht, oder wohin kämen wir denn da. Außerdem schielt sie neidisch auf den knallroten Plastikhaufen in meiner Hand. Ich drehe mich weg und muss den Rest Bum Bum mit Sicht auf eine Oberleitungsstörung lecken, aber zumindest das Gehirn wird gekühlt. Mir ist ständig heiß und trotzdem habe ich das Gefühl, ich bin invariabel halbgar. Wir legen uns in vorgeheizte Jahre und irgendwie passiert nichts, außer zweimal 41 Grad im Sommer. Was fehlt, ist der rechte Winkel.

Mittlerweile habe ich erkannt, wieso mir die verwirrte Frau so vertraut vorkommt, woher ich den Schwung ihrer Nase kenne und das fliehende Muttermal über der Lippe. Es ist mein älteres Ich, das da neben mir sitzt und eigentlich würde ich gerne wissen, wieso verdammtnochmal ich in zwanzig Jahren wieder dick geworden bin, ich habe mich doch nächtelang nur von Kühlschranklicht ernährt, aber eine Frage drängt noch mehr: „Sind wir bald da?“ 
Ich werfe ihr das ganz vorsichtig vor die Füße, so wie man einem aggressiven Hund ein Stück Fleisch als Beruhigungsköder vor die Nase legt, mit ausgestrecktem Arm und spitzen Fingern, die Beine bereit zu rennen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören will. Mein älteres Ich sagt nichts, ich versuche sie mit meinem Eis zu bestechen: „Bum Bum?“ Mir fällt im selben Moment auf, wie bescheuert das klingt, wie plemplem. Ich will doch einfach nur wissen, ob diese innere Unruhe irgendwann aufhört. Ob man jemals den Punkt erreicht, an dem man sich irgendwie vollständig fühlt und im Lot. Mein älteres Ego schweigt hartnäckig, dann brabbelt sie etwas von „Fällen“, „Konstruktion“ und „Grad“, steht schwerfällig auf und geht, ich werfe ihr den blauen Kaugummistiel hinterher. „Ich will aber nicht nach Stalingrad!“, rufe ich wütend. Ich will doch nur endlich ankommen. 

Wikipedia durchzuckt mich und ergibt plötzlich so etwas wie Sinn: „Ein rechter Winkel ist ein Winkel von 90 Grad. Zur Konstruktion gilt es, ein Lot auf einer Geraden zu fällen.“ Das Letzte, was ich spüre, als ich die Augen zumache, ist mein großer Zeh. Dann lasse ich mich fallen."


Bild: Franca Gimenez (flickr.com) unter cc by-nd 2.0