Tuesday, July 29, 2014

26 297 481,3 Minuten.

"Wie eine Drogensüchtige zwischen dem dritten und letzten Schuss fährt sie auf dem kleinen Kofferradio entlang, sucht mit zitternden Fingern den An-Knopf. Drückt ihn. Irgendein beschissener Radiosender sendet beschissene Musik, zwischen dröhnendem Rauschen und Verbindungsstörungen kriechen Fetzen von Bryan Adams in ihren Gehörgang. Meatus acusticus externus heißt der auf Lateinisch, das hat sie irgendwo mal gelesen. In einer Fachzeitschrift für Belesene Eremiten. Oder in einem Infoblatt über Tinnitus. Ja, gut, vielleicht hat sie es auch heimlich gegoogelt. Jedenfalls macht es ihr für diesen einen Augenblick nichts aus, Everything I Do in ihrem meatus acusticus externus. Alles ist besser als diese Stille, diese alles umfassende Leere, die sie Tag für Tag ein Stückchen fester umklammert, deren kalten fauligen Atem sie immer näher spürt.
An einem dunklen Abend, finster wie Asche, murmelt ihr Taschenrechner, dass sie noch ungefähr 26 297 438,3 Minuten zu leben hat. Was auf den ersten Blick viel aussieht, ist verdammt wenig, wenn man sich überlegt, dass man in einer Minute sehr beschäftigt damit sein kann, etwa fünfzehnmal zu blinzeln und sich gleichzeitig auf eine regelmäßige Lungentätigkeit zu konzentrieren. Man muss bedenken, dass in dieser einen Minute auch noch fünf Liter Blut durch den bildschirmschlaffen Körper gepumpt werden müssen. Und wenn man nicht gerade schläft, bewegen sich auch noch irgendwo hinter dem Ohrläppchen irgendwelche Muskeln.
In sechzig Sekunden bleibt neben basislebenserhaltenden Maßnahmen also gar nicht viel Zeit für betrunkene Eskapaden, große Worte und ein Ferienhaus auf Teneriffa, oder was auch immer es ist, was sich normale Leute so unter einem erfüllten Leben vorstellen. Diese Informationen zu recherchieren hat sie auf jeden Fall schon mal locker sieben Minuten gekostet. Bleiben also nur noch 26 297 481,3, um all das zu schaffen, was sie immer noch machen wollte. Auch wenn sie keine Ahnung hat, was am Ende wirklich davon bleibt - vielleicht macht es zum Beispiel nicht viel Sinn, Hebräisch lernen zu wollen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ihr Sargnachbar mal aus Tel Aviv kommen wird. Sie stellt es sich schwer vor, unter der Erde dreifache Pirouetten zu drehen. Und was bringt einem Geld? Selbst Gucci sieht beschissen aus an Skeletten.
So gesehen ist die Zeit also doch wieder ganz schön lang, die man nur dafür nutzen kann, Sauerstoff ein- und Kohlenstoff wieder auszuatmen und nebenbei ein bisschen mit den Wimpern zu wackeln. Nur um nach genau 26 297 481,3 Minuten einfach wieder damit aufzuhören oder eben ein bisschen früher oder erst später, vielleicht.
Die Minuten vergehen. Es ist immer noch dunkel wie unter einem Labyrinth metallkühler Bahngleisen. Das einzige Licht im Zimmer kommt von dem winzigen roten Punkt auf ihrem Akkulader und dem kleinen Stückchen Vollmond, der sich in der Küche ganz unkonventionell auf dem Rand einer Bratpfanne spiegelt. Ein Album mit Queen oder auch der Queen aufnehmen, ein Mittel gegen Krebs und schlimme Kater erfinden, diesem einen Menschen endlich sagen, dass man ihn immer ein Tausendstel mehr gernhaben als hassen wird. 131 487 406,5 Liter Blut, 394 Millionen Wimpernschläge. Es gibt verdammt zu viel, was man tun könnte in sechsundzwanzig Millionen Minuten. Sie zieht sich aus und legt sich quer übers Bett."


Bild: porschelinn (flickr.com) unter cc by-sa 2.0