Tuesday, January 05, 2016

Der Architekt. (I)


"Eine humide Nacht kriecht heran, als er nach Hause läuft. Auf dem Markt, auf dem sie tagsüber glänzenden Schinken verkaufen und Dörrfisch auf kleinen Holzstöcken, räumen sie gerade die Reste des Tages weg. Eine rundliche Frau in speckiger Schürze wäscht ihre Plastikkisten mit einem Schlauch ab und er würde sie gern fragen, ob es das ist, was sie sich für ihr Leben vorgestellt hat. Es sollte gar nicht prätentiös klingen, eigentlich gibt es nichts Erfüllenderes, als hungrigen Menschen richtig guten Käse zu verkaufen, den ganzen Tag an der frischen Luft zu stehen und abends Erschöpfung bis in die Rippen zu spüren. Keine Zweifel und kein Druck, keine Leere und kein Bedauern; nichts als diese körperliche Erschöpfung, die dich ganz vereinnahmt und dir nachts die Knochen zersägt. Manchmal wünscht er sich diese Art von Ursprünglichkeit; und doch weiß er, dass er eigentlich viel zu weichgewaschen ist dafür. Er würde auch gern Fische fangen und Bäume fällen und morgens im Fluss baden. Er würde gern als Nomade in Marokko leben und nachts unter den nackten Sternen schlafen. Aber dann fällt ihm ein, dass er es mit dem Rücken hat und schnell friert; hat er als Kind schon. Seine Mutter erzählte ihm früher, wie sie ihm manchmal zwei Mützen übereinander angezogen hat, und wie sich dann die Leute über seinen Kinderwagen beugten und seinen riesigen Kopf begafften. Wie eine unförmige Melone, sagte die Nachbarin immer. Die Nachbarin war groß und ausgemergelt wie ein abgelutschtes Stück Holz und roch nach Bratfett und Urin. Er kann sie noch heute nicht leiden. Fakt ist, er ist, trotz aller poetischen Bewunderung, nicht geschaffen für das rohe Leben. Er plant vorher und analysiert später, aber er lebt nicht im Moment. Er ist kein Handwerker; er ist der Architekt.

Die Menschen bewundern immer diejenigen, die genau dort sind, wo die Reize auf ihre Nerven treffen, die heute sind und heute denken, aber sie verkennen, dass es eigentlich viel mehr Mühe einfordert, ständig gleichzeitig, ständig überall und nirgendwo zu sein. Gleichzeitig die Straßen der Vergangenheit einzureißen und die der Zukunft zu errichten. Er schwingt über den Abgründen eines selbstangelegten Kapitalismus; es kostet so viel Zeit. Wofür ist Käse ein Symbol? Der Architekt lässt seine Schritte langsamer werden und bleibt etwas unsicher neben der Frau in der Schürze stehen, tut, als müsste er auf die Uhr sehen, blickt auf sein nacktes Handgelenk, schiebt seine Hand hastig wieder in den Ärmel.

„Machen Sie das schon immer?“

Der Wasserstrahl ist lauter als der unsichere Tenor, der ihm aus dem Mund fährt, und unbeirrt fährt die Verkäuferin fort, ihre Kisten abzuspritzen. Er räuspert sich.

„Machen Sie das schon immer?“

Da dreht sich die Frau um und hält ihm den Schlauch wie ein schlaffes Gewehr vor die Brust.

„Tut mir leid. Jetzt hammse mich aber erschreckt. Was sachten sie?“

„Ob Sie das schon immer machen.“ Fast bereut er, ein Gespräch angefangen zu haben.

„Seit ich denken kann. Davor hat mein Vater diesen Stand gehabt und davor mein Großvater. Sehn Sie!“ Nicht ohne Stolz zeigt sie auf ein hölzernes Schild über dem kleinen Zelt, Käse Picard – Qualität seit 1921, steht darauf. Er gibt sich Mühe, ein beeindrucktes Gesicht zu machen, er fährt nicht oft auf den eisernen Schienen der Gesellschaft, aber manchmal sieht er keine andere Wahl.

„Machen Sie es gerne?“

„Ob ich das gerne mache, Jungchen. Sie stellen Fragen. Man überlegt sich nicht, ob man es gerne macht oder nicht, man macht es einfach.“ Sie kratzt sich an einer schuppigen Stelle am Ellenbogen, genau an der Stelle, wo das weiche Fleisch ihres massiven Oberarms auf den Schorf in der Beuge trifft, und der Architekt wendet befangen den Blick ab. Solche Augenblicke sind ihm immer peinlicher als den Betroffenen, vielleicht weil er nie genau weiß, wo er auf der kurzen Linie zwischen indiskret und verklemmt oszilliert. Seine Stille und das beständige Kratzen, das die junge Nacht zerreißt wie Schleifpapier, bringen sie schließlich zum Reden.

„Früher wollte ich mal auf die Modeschule. Aber hilft ja nichts, der Stand ist unserer Familie und dann muss man den übernehmen. Da wird nicht groß gefragt, was man sich für seine Zukunft vorgestellt hat. Man macht es einfach“, sagt sie nochmal und hält inne. Sie überlegt kurz. „Und ich mach es ja schon gerne. Es ist halt Arbeit, ich rette damit vielleicht keine Leben, obwohl ja irgendwie schon, weil die Leut‘ wollen ja essen -“ Sie lacht ein leises, aber festes Lachen, man hört, dass sie Kettenraucherin ist, wahrscheinlich auch dem Alkohol nicht abgeneigt, immerhin hat sie guten Käse, denkt der Architekt, und dann guckt sie ihn freundlich und etwas ungeduldig an. Der Schlauch hängt kraftlos an ihrer knotigen Hand herunter. „Ham’se jetzt alles, was sie wissen wollen?“

Er hat, fürs Erste. Er nickt und sagt „Guten Abend“ und hätte er einen Hut auf, hätte er ihn gern gelupft, aber stattdessen hebt er die Hand zum Gruß und lässt sie auf halber Höhe wieder sinken wie ein Flugzeug, das zur Notlandung ansetzt, und dann steckt er seine inkompetenten Hände in die Manteltaschen und schlägt den Kragen hoch und läuft durch die Einsamkeit nach Hause. Er wohnt in einem ganz kleinen und hässlichen Haus am Stadtrand, der Architekt."


Bild: Instant Photography


1 comment:

ℐlasţradamuⓈ said...

Irgendwie können sie einem Leid tun, der Protagonist und die Antagonistin.