Saturday, October 10, 2015

Und dann leben wir und kerben.

frei nach Gilles Deleuze und Félix Guattari, Mille plateaux

Jeder Raum ist zunächst glatt; liegt da, völlig offen und formbar wie ein weiches Stück Wachs. Unendlich. Schutzlos. Und dann leben wir und kerben. Und dann ist die Straße nicht mehr ein unbekanntes Stück Asphalt, sondern der Weg von dir zu einem Anderen. Dann ist die Stadt ein dichtes Koordinatensystem unzähliger Bezugspunkte, werden stumme flache Wände zu sprechenden Apparaten mit Struktur. Dann gehst du nicht mehr zwischen Häusern hindurch und siehst nur das: Häuser.

Plötzlich sind da Biographien hinter Gips und Beton. Du hast dich überall im glatten Raum festgeschlagen, deine Finger ins heiße Wachs gedrückt. Du bewegst dich zwischen fremden Schatten und läufst durch eine Stadt, die sich nur für dich hochgezogen hat. Dann ist da nicht mehr ein leerer Raum, dann verschwinden eindimensionale Fassaden. Du schlägst Kerben an jeder Ecke; und dann ziehen sich deine Linien wie schwarze Schnüre durch den Wind. Dann ist da der Weinkeller, in dem zu tief auf den Grund gekratzt wurde, ist der Club, vor dem du fünf Gin Tonic und die Erinnerung an einen Menschen ausgekotzt hast und dann ist da das Schuhgeschäft, vor dem dir deine Mutter samstags eine geknallt hat. Und du kerbst weiter.


 
 
Bild: Ellen Munro (flickr.com) unter cc by 2.0

1 comment:

Bernd B. Badura said...

Hm, philosophisch, tiefgründig und läßt trotzdem die Verlorenheit eines Menschen in der Großstadt erkennen. Nich schlecht! Wirklich nich schlecht. ;)

Ich les dann mal noch ein paar Texte von dir, wenn ich darf.