Wednesday, July 01, 2015

A (very) short love story.



In the damp summer of 1935, he fell in love.
She fell down the stairs.







Bild: Ilya (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Wednesday, May 13, 2015

Freier Verfall.

 
"Die Tür ächzt ein bisschen beim Aufschließen, als hätte selbst sie genug von dieser Welt. Entnervt wirft sie ihre Sandalen in eine Ecke, die Sonnenbrille in die andere. Hat eh schon wieder einen Riss, aus dem das Glas halb heraus fällt, weil sie immer die billigen an der Straßenecke kauft. An dem Stand, an dem es dieses eine Modell in allen Neonfarben gibt, und für die gleiche Zielgruppe Piercings in den abartigsten Formen. Die gleichzeitig hippen und stillosen Verkäufer dort kauen gelangweilt Kaugummi und nehmen ihren Schein immer mit spitzen Fingernägeln entgegen – als wäre sie diejenige mit dem schlechten Geschmack. Sie nimmt immer die gleiche Brille, immer in schwarz. Vielleicht ist das langweilig - sie setzt eigentlich auf zurückhaltend-stilvoll. Manchmal sind die besten Menschen doch die Leisen.
 
Aber egal in welcher Farbe, die ganzen Klamotten, die Brillen und Schuhe sind doch letzten Endes auch nur dazu da, dass man sich draußen ein bisschen besser in seiner Haut fühlt. Oberflächlichkeit ist manchmal ein wahrer Segen. Es reicht, wenn andere erst nach einigen Wochen oder auch schon Tagen bemerken, dass sie komplett neurotisch ist. Aber wenn sie die Straße entlang federt, mit flatternden Augen und wippender Hüfte, dann genießt sie es, einfach mal so zu tun, als wäre sie ganz bei sich selbst. Vor allem jetzt, zu dieser Jahreszeit. Im Sommer verteilt sie geschmolzenes Lächeln und kühle Blicke wie gratis Cornettos. Zeigt ihre nackten Beine und versteckt die Melancholie hinter selbstgeklebten Sonnenbrillen. Wahrscheinlich wirkt sie dann tatsächlich selbstbewusst statt von Selbstzweifeln zerfressen, ausgeglichen statt auf einer ständigen Berg- und Talfahrt. Manchmal ist ihr fast physisch übel von dem Höhenunterschied. Aber meistens ist sie eh nicht lange himmelhoch jauchzend. Die Luft ist eindeutig zu dünn da oben.
 
Ab 1200 Metern Höhenunterschied wringt sich der Druck auf den Ohren bis ins Gehirn, man erkennt die Signale mittlerweile, das Blut fängt dann an zu rauschen wie ein motivationsmüdes Radio und selbst das überlaufende Gefühlszentrum neben der Brust kann das Vakuum im Kopf nicht mehr auffüllen. Auch Bergsteiger bekommen durch den Sauerstoffmangel beim Aufstieg Konzentrationsprobleme und Denkschwund. Wer will das schon, so ein Hirnödem klingt wirklich öde. Wenn sie ganz oben ist, lässt sie deshalb los. Der Fall ist so kurz, dass sie ihn nicht einmal mitbekommt, und nach dem Aufprall bleibt sie meistens noch eine gute Weile liegen."
 
 

Bild: Jacob Walti unter cc0 1.0
 


Saturday, January 10, 2015

Keiner hatte Krebs, sie war Löwe.

"Am Straßenrand neben dem Supermarkt klebt eine Kotzlache, ein dichter Haufen mit groben Enden, ein paar Spritzer eilig rundherum verteilt. Das Ganze erinnert irgendwie an ein zeitgenössisches Gemälde. Oder vielleicht sieht auch einfach moderne Kunst mittlerweile aus wie Kotze. Was dieser Gedanke mit dem späteren Vorfall zu tun hat, ist jetzt noch unklar. An diesem Dienstag hebt sie erst mal die Beine leicht an und steigt über den Fleck hinweg. Versucht, nicht einzuatmen, tut es aber dann doch, einer Art masochistischen Neugier folgend.

Es sind Menschen, dachte sie montags, als sie sich in den Laken zusammenkrümmte, es sind Menschen, die sich gegenseitig kaputt machen. Das Betttuch schmeckte nach nassem Salz. Es gab bei den meisten keine äußeren Faktoren der Destruktion, sie machten tagsüber irgendwas, sie hatten Geld und Gouda für abends, sie waren im großen Ganzen alle gesund, keiner hatte Krebs, sie war Löwe. Was ist also Ursache für die ganze Scheiße?

Die Linie 3 riecht nach Schweiß und geistiger Verwesung. Um sie herum käsig-verkabelte Gesichter, im Türglas spiegelt sich ihre eigene Interpretation. Zu Tausenden rumpeln wir voran, wie Schweine in ‘nem LKW zum Schlachthof. Im Bauch der U-Bahn sind wir alle gleich, stammeln Oliver und Axel aus dem Kabel. „Schau mal in deinen Taschen nach“, pustet ihr jemand von hinten ins Ohr. Ihre Nackenhaare streift ein bitterer Wind. Eine Mischung aus Fremdheit, Wermut und Absinth. Wermut? Oder Wehmut, denkt sie noch. In unbekannten Situationen kommen ihr die absurdesten Gedanken. Als sie sich umdreht, blickt sie in zwei blaugraue Augen, klein und fest wie Kieselsteine. Der Mann, der ihr gerade seine Epiphanie per Tröpfcheninfektion ins Ohr speicheln wollte, trägt filzigen Bart und Fahne, er riecht nach siebzehn Tagen ungeduscht. Nur seine Augen sind wie poliert, kalt und ganz klar. Die Augen als Spiegel der Seele, was für ein beschissenes Klischee, das ist ihr erster Gedanke. Klingt so armselig, als hätte sich das jemand nur ausgedacht, um es schreiben zu können. Wehe, der will mit mir jetzt über Gott reden, denkt sie als Zweites und sucht das volle Abteil hilflos nach anderen Opfern ab. Dass die mittlerweile nicht mal vor Zugtüren Halt machen. Sie entscheidet sich, den Fremden nur müde anzuschauen und zuckt zur Bekräftigung ihrer finanziellen wie spirituellen Ohnmacht noch mit den Schultern. Er ist schlussendlich kein Zeuge Jehovas. Die Frage ist, ob er überhaupt was bezeugen kann außer den fatalen Auswirkungen von Alkohol auf Farbe und Elastizität menschlicher Haut. Erst als der Penner aussteigt, fällt ihr ein, was er gesagt hat und sie lässt drei Finger in die Manteltasche wandern. Sie fühlen: nichts.

Es gibt keinen Anlass für die Hölle. Und trotzdem ist sie da; nicht unbedingt als Ort, aber doch als diesiger Raum, ohne feste Grenzen. Denn Eines merkt man nicht erst zu sechs Uhr feierabends in der U-Bahn, aber vielleicht besonders dann: Die Hölle, das sind die Anderen. Und es ist echt ein Jammer, dass Sartre diesen Satz schon gesagt hat, denkt sie, greift an die kühlen Metallhebel und lässt sich auf den Bahnsteig kotzen. Das wäre mir auch eingefallen."



Bild: Mario Calvo unter cc0 1.0
 

Tuesday, October 21, 2014

Wir sind alle Wölfe.

Ein Kampf in drei Akten

"Die Gesichter, die draußen gehetzt vorbeifliegen, sehen aus, als hätten sie den Sommer schon ganz vergessen. Als wüssten sie gar nicht mehr, dass sie vor ein paar Wochen, Tagen sogar noch unter einer fremden Sonne gelegen und sich abends den Sand aus den Ohren gerieben haben. Als könnten sie sich nicht daran erinnern, wie unbeschwert sie waren und glücklich, als schauten sie die entwickelten Fotos nicht mehr an und hätten den Geschmack der letzten Meeresfrüchte längst von den Zähnen geschrubbt. Jetzt tragen sie Herbstmode und missmutige Mienen und führen ihre Resignation spazieren wie einen kläffenden Hund.

Ein kleines Stück Sonne scheint in ihre Schüssel mit Pasta, kleiner noch als der Fetzen Parmesan, den sie gerade konzentriert auf eine Nudel stapelt. Er hat nur einen gemischten Salat bestellt und schiebt jetzt die Blätter von einer auf die andere Seite und genau das ist irgendwo auch das Problem. Sein Blick sucht die Flasche mit dem Balsamico, er findet, rastet ein und lässt sie nicht mehr los. Die Häuser scheinen irgendwie weiter auseinandergerückt zu sein in den letzten Tagen. Sie streiten nicht mehr.

Vorher:
 „Als Kampf wird eine Auseinandersetzung zweier oder mehrerer rivalisierender Parteien bezeichnet, deren Ziel es ist, einen Vorteil zu erreichen oder für das Gegenüber einen Nachteil herbeizuführen“, sagt das Internet. Es ist ein Symptom ihrer Generation, Dinge zu googeln, auf die sie selbst keine Antworten hat, Lücken zu füllen, die sich mit Fertigpizza und 2,69€-Billigwein aus dem Supermarkt nicht mehr stopfen lassen. „Mit Kampf kann auch eine große Anstrengung gemeint sein, mit dem Ziel, sich selbst zu beherrschen, Widrigkeiten zu überwinden oder in einer Situation zu bestehen.“ Nie hat sie sich in einem Wikipedia-Eintrag mehr wiedererkannt. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, Männer seien Hunde und Frauen eine Katze. Später musste sie erfahren, dass sie für die oft nichts ist als ein nett riechender Knochen. Aber langsam dämmert ihr: wir sind alle Wölfe.

Ausweitung der Kampfzone I:
„Es könnte ganz leicht sein“, sagt er. „Es wäre genau das, was dieses beschissene Jahr vollenden würde“, sagt sie und nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Glas mit irgendwas drin. Es zu benennen, würde dieser Geste nur eine Aussage verleihen, die ihr nicht gerecht wird oder umgekehrt, derer sie nicht würdig ist. Rotwein wäre zu dramatisch. Whiskey zu pathetisch, Spezi zu profan. Sie meinen nicht das Gleiche, aber keiner hat Lust, den anderen aufzuklären. Vielleicht war es taktisch unklug, sich in einer Bar zu treffen, in der sie sich alles, was sie sagen wollen, in die schweißmüden Gesichter schreien müssen. Vielleicht war es Selbstbetrug, vielleicht auch ein Klischee. Hinter dem Mischpult zappelt sich ein magerer Jüngling mit Undercut die Seele aus dem Leib, an der Bar der scharfe Typ mit den leicht schiefen Zähnen. Eine kleine Kneipe in der linken Herzkammer von München, gerade noch so unbekannt, dass sie als Geheimtipp durchgeht, aber wer etwas auf sich hält, ist da. Viele halten etwas auf sich in diesen Tagen. Der Tresen klebt, der Boden auch, Bier und tausendundeine durchzechte Nacht hinterlassen ihre Spuren, die wie zufällig in den Raum geworfenen Möbel sind vom Flohmarkt und verkörpern genau die richtige Mischung aus Ramsch und abgefuckter Lässigkeit. Dieser ganze Laden hier ist ein verdammtes Klischee, durchzuckt es sie. Alles passt zusammen.

Nur eins passt nicht, und das sitzt vor ihr, zwischen Feierabendgesichtern und Beziehungsstressvisagen, und jagt arglos seinen Mojito durch den Strohhalm. Sie hasst es, wenn andere ihre Cocktails mit Strohhalm trinken. Strohhalme sind was für Kindergeburtstage und Senioren mit Schluckbeschwerden. Und es nimmt dem unwichtigen und doch irgendwie so bedeutenden Detail seine Größe, dass er gerade den Lieblingsdrink eines der überragendsten Schriftsteller, die je gelebt haben, gedankenlos durch die Röhre der Trivialität zieht. Hemingway hätte kubanischen Rum nie mit einem Strohhalm getrunken. Aber das sagt sie nicht. „Willst du noch einen?“, fragt sie stattdessen und hofft, betet plötzlich, er möge verneinen. Ist es dunkler geworden, seit sie zuletzt geredet haben, haben sich die peinlichen Discokugeln endlich aufgehört zu drehen, als sie fragte - oder bildet sie sich das nur ein? Sein Blick klettert vom versifften Glasrand müde nach oben, und er schaut sie jetzt direkt an, mit einer seltsamen Mischung aus Suff und Enttäuschung. Er wirkt zum ersten Mal angriffslustig, feindselig fast. „Klar trinken wir noch einen“, sagt er und rudert dem schiefzähnigen Kellner mit der Hand ins Gesicht. „Wieso auch nicht.“
Sie wissen nicht mehr wofür, aber sie sind bereit zu kämpfen.

Ausweitung der Kampfzone II:
„Die angreifende Seite wird in der Regel als Aggressor bezeichnet“, murmelt das Lexikon. Der Drucker rattert und stöhnt. Sie zieht das Papier raus, als es noch warm ist und riecht flüchtig daran, so wie andere Menschen am Kopf eines Neugeborenen schnuppern. Kinder mögen sie tendenziell nicht, sie weiß gar nicht genau wieso, ihre Mutter würde wahrscheinlich sagen, sie fremdeln. Mit Druckerschwärze kann sie besser. In Momenten wie diesen fragt sie sich, ob es genau solche Banalitäten sind, die einen am Ende vom Kätzchen zum Wolf werden lassen. Manchmal merkt man doch mittendrin im Gefecht, kurz bevor man fürchtet, man könnte verlieren, dass man eigentlich noch viel mehr Schiss davor hat, tatsächlich zu gewinnen. Aber dann ist es für einen Rückzug zu spät, die Rollen sind verteilt und die Schnitte noch nass. Die meisten Kämpfe führen in die Isolation.

Sie nimmt das Blatt, es ist immer noch warm, und zerreißt es langsam und mit fast kontemplativer Konzentration, bis es in fingernagelgroßen Fetzen über ihre Knie schwimmt. Da ist er wieder, der fahle Geschmack von Verlust im hinteren Rachenwinkel. Sie drängt ihn hastig in den Gaumen zurück und tastet nach ihrem Handy. Scrollt geistesabwesend ihre Kontaktliste durch, saugt sie auf, die virtuellen Gesichter und ihre lächerlich erzwungenen Weisheiten. Da, bitte, ich hab doch Freunde, spuckt sie in die frühe Nacht, die nicht den Anschein macht, als würde sie sich dafür interessieren. Ich könnte mich mit jedem einzelnen von ihnen jetzt noch auf ein Bier verabreden, wenn ich nur wollte. Sie hätte jetzt nicht übel Lust auf ein kühles Helles.

Wölfe sind auch nur Rudeltiere, letzten Endes - solange sich jeder nach drei Bier auf seine Erde zurückzieht. Am Ende kämpft man nur noch für sich selbst. Die Vorstellung vom ewigen Übersiedeln in fremdes Revier wird zur Illusion, zerfällt in den Staub besoffener Tage. Das bittere Gefühl schlängelt sich immer weiter, sie schmeckt es jetzt im ganzen Mund, rollt es mit der Zunge ein, lässt es an die Backenzähne krachen, und schluckt es dann vorne wieder runter, heftig und ein bisschen zu schnell.

Zwei Stunden vorher: frenetischer Applaus zerreißt den Münchner Gewitterhimmel. In der Pause trinken Frührentner in schlecht sitzenden Hosenanzügen überteuerte Cola und sie fragt sich zum neunundzwanzigsten Mal an diesem Abend, was sie hier eigentlich machen. Als wäre ein Kampf weniger erniedrigend, wenn man ihn in hohen Schuhen austrägt. Stattdessen kommt man sich vor wie der Statist einer Schmierenkomödie, von der alle anderen behaupten, es sei ein Drama von Brecht. Aber mit diesem Zug hat er die Kampfzone systematisch ausgeweitet, er geht jetzt zum Angriff über, erobert sie auch im Innenraum. Flucht beim letzten Beifall. Sie nimmt ihren dünnen Mantel entgegen und legt der Garderobenfrau einen Euro in die geöffnete Faust. Ich weiß ja, wie sich das anfühlt, sagt ihr Lächeln, zaghaft, aber bestimmt. Ich hab auch mal als menschliches Jackenkarussell gearbeitet, wobei das mit dem menschlich bei den meisten ja so eine Sache ist. Hol mich hier raus, flüstern ihre Augen, die schwer sind von Wimperntusche und zu viel Weißwein in der Pause.

„Kommst du?“ Er ist zur Stelle, natürlich. Legt ihr einen Arm um die Hüfte und schiebt sie sanft in Richtung Treppen. Sie muss sich ein bisschen am Geländer festhalten, verdammter Wein, aber das bringt ihn zum Lachen. Sie ist überrascht, wie gut er das kann. Fast als machte er das nicht zum ersten Mal. Sie wankt noch ein bisschen mehr, klammert sich etwas fester als nötig um den mit Plüsch bezogenen Handlauf, auch wenn der wahrscheinlich voll ist von Flöhen, es juckt sie schon bei der bloßen Vorstellung, aber sie kann sich gerade noch beherrschen, sich jetzt am Kopf zu kratzen. Von der letzten Stufe gelingt sogar ein kleiner Sprung. Hoffnung,  damit ihr komödiantisches Talent endgültig unter Beweis gestellt zu haben, ein kurzer und sehr peinlicher Anflug von Stolz. Sie schielt auf ihren Fluchtpunkt. Er lacht, aber irgendwie nur unterhalb der Nasenspitze und scharrt mit den Füßen. Draußen schneidet Frühherbstkälte scharf durch die Luft. München ist müde - sie auch.

Ob er noch mitkomme, fragt sie dann, rein aus Formalitätsgründen, sie kennt die Antwort, sie liegt dort drinnen auf dem Grund der Plastikbecher, verschüttet vom Wein. Sie macht es ihm damit eigentlich sehr einfach. Die üblichen Ausreden liegen alle in mundgerechten Häppchen bereit, die Ich-muss-morgen-früh-raus, die kleine Schwester Müdigkeit, auch die für Fortgeschrittene, irgendwas über Zopiclon HEXAL und Klamotten zum Wechseln. Er geht auf Nummer sicher und wählt die Zwei. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, als suchten sie dort nach Gold oder vergessenem Geld, drückt er ihr etwas auf den Mund, irgendwas zwischen Kuss und feuchter Luft mit Spucke, dreht sich um und geht. Sie schwankt ihr betrunkenes Ich alleine zur Tram. Über ihr läuft Rigoletto zum vierten Mal an den Vorhang und lässt sich vornüber fallen. Das überschminkte Gesicht der Oper ist eine Fratze und sie lacht ihr von allen Seiten dreckig ins Gesicht.

Ausweitung der Kampfzone III:
„Die Gewalt zwischen Israel und der im Gazastreifen regierenden Hamas dauert an. Die israelische Luftwaffe griff in der Nacht erneut Ziele in Gaza an“, trägt der Nachrichtensprecher mit schräg gestreifter Langweiler-Krawatte seine Sätze ohne große Leidenschaft in die Kamera. Überall herrscht Krieg, denkt sie, und keiner weiß, wofür. Auf einmal hat sie Lust, die Worte auszusprechen, einfach um zu wissen, ob sie tatsächlich so klug chiffriert und theatralisch klingen wie in ihrem Kopf. „Manchmal fühle ich mich wie Palästina“, sagt sie in die Atempause von Thorsten Schröder hinein und bereut es noch im gleichen Augenblick. Es klingt weder klug noch theatralisch, nur beschissen geschmacklos und noch dazu politisch inkorrekt. So könnte auch ein Song von Xavier Naidoo beginnen. „Was meinst du?“, murmelt er, ohne die Augen vom Bildschirm zu kratzen. „Manchmal fühle ich mit Palästina.“ Peng, Rückzieher. „Also, das muss man schon ein bisschen differenzierter sehen“, holt er auch schon aus. Pengpeng, linker Haken. Etwas fällt in ihr zusammen. Sie hatte sich das so gut zurechtgelegt alles, die Rede über Territorialisierung und Deterritorialisierung und das ohnmächtige Gefühl, erobert zu werden, die gewiefte Analogie ihrer irrationalen Angst zu einem besetzten Landstreifen zwischen Jordan und Mittelmeer. Sie hatte den Bogen geschlagen wie eine Figur im Kunstturnen und sauber auf der gegenüberliegenden Kante aufgesetzt. Eigentlich alles richtig gemacht. Aber gewackelt bei der Landung.

„Mag sein, dass die Palästinenser dort zuerst ihren Raum hatten, und klar, in einem Kampf gilt es auch, sich zu behaupten. Aber Raketen als Druckmittel abzufeuern und israelische Soldaten gefangen zu nehmen, wie die Hamas es tut, halte ich für kopflos. Auch wer abwehrt, kämpft. Die haben jetzt einmal angefangen, und können nicht mehr aufhören, bis alles in Schutt und Asche liegt“, sagt er und kratzt sich vielsagend am Kinn. Wichtige Worte sollten immer von nebensächlichen Gesten begleitet werden, das verleiht ihnen eine gewisse Lässigkeit. Sie nimmt sich vor, bei ihrem nächsten Bewerbungsgespräch beiläufig eine Banane zu schälen. „Aber ich fürchte, so wird es nie zu einer Lösung des Konflikts kommen, die einen schleudern Bomben, die anderen schmettern dagegen, und irgendwann kann man nicht mehr sagen, wer das Ganze angefangen hat. Was wir brauchen, ist eine Zwei-Staaten-Lösung.“ Er scheint zufrieden mit seinen Ausführungen und der politisch wertvollen Pointe und lässt sich etwas erschöpft in die angeranzten Sofakissen fallen. Ja, denkt sie und schließt die Augen, als würde sie gleich unter Wasser abtauchen, die Ohren dicht, den präfrontalen Cortex versiegelt. Genau das ist es, was wir brauchen. Eine Zwei-Staaten-Lösung. 

Nachher:
„Krass, dass der Sommer jetzt schon wieder vorbei ist“, sagt sie, dehnt die Worte und den warmen Käse auf ihrer Gabel und sieht ihm beim Nicken zu. Sie wissen beide, was sie damit eigentlich sagen will. Krass, dass das mit uns beiden jetzt schon wieder vorbei ist. Die Luft riecht nach frittiertem Essen und Verlust. Der Kellner war schon lange nicht mehr an ihrem Tisch, als hätte er Angst, ihr einträchtiges Unbeholfenheitsballett zu stören. Sie machen schweigend weiter, eine stapelt, der andere schiebt. Sie wissen auch, der eine so gut wie die andere: es war schon lange vorbei. Aber etwas ist anders an diesem Tag Ende August, nicht nur die Getränke. (Sie trinkt stilles Wasser, er Cola, ohne Strohhalm). Sie kämpfen nicht mehr. Was folgt, ist die Zwei-Staaten-Lösung. Waffenstillstand."



Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Saturday, October 18, 2014

Fragmentarisch Frieren.


 
"Er inhaliert und stößt kalten Rauch aus, die Augen hängen ihm starr im Gesicht. Ist das der Alkohol oder schon die erste Regieanweisung? Sie steht da mit leeren Händen und feuchten Haaren und weiß nicht wohin mit ihrer Unbeholfenheit. Um sie herum nur noch die Leute, die nüchtern und erhobenen Hauptes über die Samstagabendleichen steigen und die, die an Hauswänden wanken und dabei sind, die nächsten Leichen zu werden. Wir passen nicht dazu, sind weder die einen noch die anderen, denkt sie, wir sollten hier gar nicht sein.
Er zieht immer noch, wirkt fast verzweifelt, wie er da steht, in seinem T-Shirt, das ihm im Nachtwind um den Rücken flattert und an der Zigarette saugt. Warmer Elektro weht aus dem Club herüber und fährt ihr quer durch den Körper. Es tut gut, das erste Mal seit langem und sie stellt fest, dass sie eigentlich ganz gerne wieder reingehen würde. Tanzen, vielleicht die Arme in die Luft werfen, oder irgendwas Übertriebenes, und Schnaps aus kleinen Gläsern stürzen. Den anderen verkaufen, dass man vollkommen gelöst ist und sich das irgendwann selber glauben. „Hm, und jetzt?“ Er legt den Kopf schief, ganz leicht nur, als wäre ihm die Welt auf den Ohren plötzlich zu schwer geworden. Sie hasst es, wenn er sie so anschaut. Sein Blick ist dann ganz voll von Dingen, einige versteht sie und die meisten gar nicht, und sie hasst sich dafür, dass sie das so liebt. Manchmal muss er sie nur so anschauen und alles wird heller.
Vielleicht reicht das, denkt sie manchmal. Wenn jemand sowas kann, muss er vielleicht nicht mehr kochen können, braucht nicht geduldig sein und darf beschissene Musik mögen. Vielleicht muss er nicht mal besonders nett sein. Ein schiefes Lächeln kann manchmal die ganze Welt gerade rücken. Plötzlich hat sie unfassbare Lust auf ein Rosinenbrötchen. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, flüstert er zwischen zwei Zügen und streicht ihr so vorsichtig eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht, dass ihr ganz anders wird.
Du musst jetzt was antworten, denkt man nach einer viel zu langen Zeit aus Luftanhalten und Stille. Neben ihr erbricht sich ein pickeliger Blonder mit Gelfrisur auf seine Schuhe, die Kumpels lachen sich kaputt. Lass dir was einfallen, erinnere dich, du wolltest doch so viel sagen und jetzt ist der Moment, du musst nur noch ablesen, hör auf dein Gefühl und sag, was ist und wie es sein soll. Als sie den Mund aufmacht, schwimmt ihr scharfe Luft in den Rachen. „Hat um die Zeit noch ein Bäcker auf?“ Sie hätte doch so gern ein Rosinenbrötchen."




Bild: Leo Hidalgo (flickr.com) unter cc by 2.0

Tuesday, July 29, 2014

26 297 481,3 Minuten.

"Wie eine Drogensüchtige zwischen dem dritten und letzten Schuss fährt sie auf dem kleinen Kofferradio entlang, sucht mit zitternden Fingern den An-Knopf. Drückt ihn. Irgendein beschissener Radiosender sendet beschissene Musik, zwischen dröhnendem Rauschen und Verbindungsstörungen kriechen Fetzen von Bryan Adams in ihren Gehörgang. Meatus acusticus externus heißt der auf Lateinisch, das hat sie irgendwo mal gelesen. In einer Fachzeitschrift für Belesene Eremiten. Oder in einem Infoblatt über Tinnitus. Ja, gut, vielleicht hat sie es auch heimlich gegoogelt. Jedenfalls macht es ihr für diesen einen Augenblick nichts aus, Everything I Do in ihrem meatus acusticus externus. Alles ist besser als diese Stille, diese alles umfassende Leere, die sie Tag für Tag ein Stückchen fester umklammert, deren kalten fauligen Atem sie immer näher spürt.
An einem dunklen Abend, finster wie Asche, murmelt ihr Taschenrechner, dass sie noch ungefähr 26 297 438,3 Minuten zu leben hat. Was auf den ersten Blick viel aussieht, ist verdammt wenig, wenn man sich überlegt, dass man in einer Minute sehr beschäftigt damit sein kann, etwa fünfzehnmal zu blinzeln und sich gleichzeitig auf eine regelmäßige Lungentätigkeit zu konzentrieren. Man muss bedenken, dass in dieser einen Minute auch noch fünf Liter Blut durch den bildschirmschlaffen Körper gepumpt werden müssen. Und wenn man nicht gerade schläft, bewegen sich auch noch irgendwo hinter dem Ohrläppchen irgendwelche Muskeln.
In sechzig Sekunden bleibt neben basislebenserhaltenden Maßnahmen also gar nicht viel Zeit für betrunkene Eskapaden, große Worte und ein Ferienhaus auf Teneriffa, oder was auch immer es ist, was sich normale Leute so unter einem erfüllten Leben vorstellen. Diese Informationen zu recherchieren hat sie auf jeden Fall schon mal locker sieben Minuten gekostet. Bleiben also nur noch 26 297 481,3, um all das zu schaffen, was sie immer noch machen wollte. Auch wenn sie keine Ahnung hat, was am Ende wirklich davon bleibt - vielleicht macht es zum Beispiel nicht viel Sinn, Hebräisch lernen zu wollen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ihr Sargnachbar mal aus Tel Aviv kommen wird. Sie stellt es sich schwer vor, unter der Erde dreifache Pirouetten zu drehen. Und was bringt einem Geld? Selbst Gucci sieht beschissen aus an Skeletten.
So gesehen ist die Zeit also doch wieder ganz schön lang, die man nur dafür nutzen kann, Sauerstoff ein- und Kohlenstoff wieder auszuatmen und nebenbei ein bisschen mit den Wimpern zu wackeln. Nur um nach genau 26 297 481,3 Minuten einfach wieder damit aufzuhören oder eben ein bisschen früher oder erst später, vielleicht.
Die Minuten vergehen. Es ist immer noch dunkel wie unter einem Labyrinth metallkühler Bahngleisen. Das einzige Licht im Zimmer kommt von dem winzigen roten Punkt auf ihrem Akkulader und dem kleinen Stückchen Vollmond, der sich in der Küche ganz unkonventionell auf dem Rand einer Bratpfanne spiegelt. Ein Album mit Queen oder auch der Queen aufnehmen, ein Mittel gegen Krebs und schlimme Kater erfinden, diesem einen Menschen endlich sagen, dass man ihn immer ein Tausendstel mehr gernhaben als hassen wird. 131 487 406,5 Liter Blut, 394 Millionen Wimpernschläge. Es gibt verdammt zu viel, was man tun könnte in sechsundzwanzig Millionen Minuten. Sie zieht sich aus und legt sich quer übers Bett."


Bild: porschelinn (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Friday, June 20, 2014

Linie 17.


"Leicht genervt und viel nüchterner als sie gehofft hatte, stolpert sie aus dem Club in die Novemberschwärze. Es ist eine ganz blöde Uhrzeit, um die Biege zu machen, das fällt ihr erst jetzt auf. Es ist so spät, dass alles, was draußen rumläuft, schon komplett besoffen ist und nur noch wenige Körperfunktionen selbstständig steuern kann, aber so früh, dass zerbrochene Bierflaschen und erbrochene Drinks immer noch überall auf dem Gehweg kleben. So spät, dass die letzte U-Bahn längst gefahren ist, aber so früh, dass die nächste erst in ein paar Stunden kommt. Es ist dieses samstagnächtliche Wurmloch, in dem einem selbst der öffentliche Nahverkehr das Gefühl gibt, dass man irgendwas total falsch macht im Leben. Man sollte gerade Spaß haben, sich die Luft aus der Lunge tanzen, die Zellen und Ängste aus dem Gehirn trinken, alles, nur nicht nach Hause fahren. Im dunklen U-Bahn-Schacht kommen ihr zwei Typen entgegen und werfen ihr irgendeinen dummen und wahrscheinlich ziemlich sexistischen Spruch ins tanzverschwitzte Gesicht. Sie macht auf arrogante Eisprinzessin und irrt fluchend zwischen Oberfläche und Unterführung hin und her. Laufen würde schneller gehen. Aber ihre Fußballen in den Stiefeletten brennen wie Feuer und den Weg weiß sie irgendwie auch nicht genau. Die Tram kommt in 27 Minuten. Sie lässt sich auf einen kalten Sitz fallen, und bemüht sich, nicht zu heulen, während sie ihre Ohrstöpsel entwirrt. Sie weiß gar nicht genau, wieso sie heute Abend so schlecht drauf ist. Wieso sie alleine um drei aus dem Club geflüchtet ist, obwohl alle ihre Freunde noch auf der Tanzfläche geblieben sind. Vielleicht, weil mal wieder alle unverschämt viel Spaß hatten und sie zwischen drei guten Songs außer Musik, Müdigkeit und der immer gleichen Melancholie nicht viel gefühlt hatte.

Sie dreht an ihrem ipod-Rädchen auf ganz rechts ganz laut und schaut auf die schwarze Straße vor sich, als könnte ihr dort irgendwas weiterhelfen, ein lebenskrisenerprobter Igel vielleicht. Noch bevor das erste Lied zu Ende ist, nähert sich ein Kerl. Er sieht gut aus, das sieht sie sofort. Wahrscheinlich eine Angewohnheit, wenn auch eine ziemlich weitläufige, aber sie kann Typen mittlerweile in Sekundenschnelle abscannen, auch im schüchternen Licht einer Straßenlaterne, angetrunken um drei Uhr nachts. Blonde Haare, ein paar Bartstoppeln, nichts fällt aus dem Rahmen, diesmal. Ihre ganze Bank ist leer, die anderen drei auch. Er lässt sich genau auf den Sitz links neben sie fallen. „Hey“, sagt der Typ. Sie dreht die Musik leiser. „Hi“. „Ich bin Paul“. Sie steckt den ipod in die Tasche. „Lilith“."


Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Sunday, September 29, 2013

Endstation Haltestelle.

"Manchmal muss man sich damit abfinden, dass der Zug abgefahren ist. Muss endlich einsehen, dass er keine Verspätung hat, nicht durch Umwege nur etwas länger braucht, auch nicht durch einen Baumstamm auf den Gleisen aufgehalten wurde, sondern einfach nicht mehr kommen wird.
Man kann es sich auf den kalten Bänken der Bahnstation, die wie alle Bahnhöfe nach Bier und Pisse stinkt, bequem machen, mit anfänglich gehetzten und bald lethargisch-desolaten Augen die leuchtenden Anzeigen nach dem Zielort absuchen und den Rest der Menschen beobachten, wie sie zielstrebig Koffer ziehen und Taschen schultern, in Züge steigen und Ziele erreichen. Man kann sich sein Leben in dem grauen Bahnhofsgebäude einrichten, seinen Tag nach dem Flimmern der Anzeigentafeln ausrichten und Zuversicht aus klammen Pappbechern trinken.
Man kann aber auch einfach in den nächsten Zug einsteigen und irgendwann wieder aussteigen: entweder man kommt irgendwo an, wo man vielleicht glücklich werden könnte oder der nächste Bahnhof ist zumindest ein bisschen weniger grau. Das tun die Mutigen. Man kann auch aufstehen, den Bahnhofsmief von den Klamotten klopfen, sich bestimmt umdrehen und gehen. Das tun die Realistischen.
Aber sie war leider weder mutig noch realistisch. Sie war feige und glaubte an alles, nur nicht die Wahrheit. Erstickte an ihren Ängsten und ertrank in ihrer Illusion. Sie flüchtete sich in utopische Sphären, verlor sich in den Wirrungen erdachter Fäden. Ein Netz, in dem man noch was auf Fahrpläne gab, eine Art Paralleluniversum, in dem sie nicht immer zu spät kam und ihrem Zug nur noch keuchend hinterherschauen konnte. Also blieb sie sitzen und tat das, was sie am besten konnte: warten. Sie wartete auf etwas, das längst vorbeigerauscht war, sie antizipierte die Vergangenheit in der Gegenwart und auch wenn sie längst erkannt hatte, wie absurd das war, verharrte sie wie eine eiserne Skulptur auf ihrem Platz, besetzte und verteidigte ihn. Wenn sie den Zug doch nicht verpasst hatte, würde sie die Erste sein, die aus ihrem komatösen Zustand zwischen Wachen und Warten aufspringen und zusteigen könnte. Und bis dahin würde sie auf der unbequemen Bank sitzen, bis sie sich selbst nicht mehr spürte, und Pappbecher vom Kiosk nebenan leeren: Kaffee kalt mit aufgeschäumter Hoffnung und zwei Stück Zucker."
 
 
Bild: Hauptillusionator (flickr.com) unter cc by-nc-nd 2.0

Saturday, September 14, 2013

Hundertachtzig Gramm Stille.




"Sie saß stumm auf der Bettkante, die bloßen Füße auf dem kalten Fußboden, und zupfte an der Haut an ihren Fingernägeln herum. Das machte sie immer, wenn sie unsicher war. Sie war oft unsicher in letzter Zeit. Deshalb sahen ihre Hände auch wie Kinderhände aus, aufgerissenen, abgekaut, oft sogar blutig. Sie suchte seinen Blick nicht, betrachtete stattdessen die Wand gegenüber so eingehend, als ob jemand dort ein Suchbild mit der Antwort auf alle ihre Fragen hingepinselt hätte, vertiefte sich in ihre Farbverläufe, verlor sich in ihrer Musterung. Die Wand war weiß.
Sie musste daran denken, wie sie sich früher immer gewünscht hatte, endlich erwachsen zu sein. Wie sie mit imaginären Autoschlüsseln herumgespielt und über Dinge wie Nescafé und Dispotzinsen geredet hatte. Es war ihr immer so erlösend vorgekommen. Endlich frei. Aber es stellte sich heraus, erwachsen werden war nicht so leicht, wie man sich das vorgestellt hatte. Es war sogar verdammt schwer. Sie wusste bis heute nicht so genau, was Dispotzinsen sind. Und noch viel weniger, ob das überhaupt wichtig war. 
Was sie schon immer an Kindern geliebt hatte, war ihre Ehrlichkeit. Sie reden nicht um eine Sache herum, sie versuchen ein Pflaster nicht mit viel Wasser langsam von der Haut zu lösen, sie reißen es mit einem kurzen Ruck einfach ab. Ehrlichkeit ist oft verletzend. Aber sie bevorzugte den heftigen und gewissen Schmerz, dem sie sich ganz hingeben konnte, gegenüber der quälenden Unsicherheit. Der ständige Gedanke, dass es gleich wehtun wird, ist unerträglich, wenn man nicht weiß, wann dieses gleich ist. In zwei Minuten? In drei Tagen? Doch erst in einem Jahr? Oder kommt man vielleicht doch noch ungeschoren davon? Man kommt es eh nie, das hatte sie inzwischen gelernt.
Vielleicht war es ihr persönlicher Fluch, dass sie immer aus der Zeit fliehen wollte, in der sie gerade feststeckte. Als Kind war die Welt der Erwachsenen immer ein stummes Versprechen gewesen, endlich das Leben zu führen, das man sich selbst ausgesucht hat. Wie oft hatte sie sich gewünscht, groß zu sein, eigene Entscheidungen treffen und mit Autoschlüsseln klappern zu können.
Und jetzt hatte sie das Gefühl, seinen gequälten Blick so bleiern auf sich zu spüren, dass sie weiter versuchte, ihren Blick nicht von dieser unerträglich langweiligen Wand zu wenden. Die Wand starrte sie zumindest nicht so vorwurfsvoll an, an ihr prallte einfach nur alles ab. Die Stille war so schwer, dass sie glaubte von ihr erdrückt zu werden.
Kann Stille schwer sein? Wie kann das Fehlen von Worten schwerer wiegen als Worte selbst?
Eine weitere Frage, zu der sie keine Antwort wusste. Sie schien nicht viel zu wissen in diesen Tagen, sie erkannte nur, dass diese Stille mehr aussagte, als es Worte je könnten.
Das wussten sie beide. Im gleichen Moment. Wahrscheinlich hatte er es noch einen Augenblick früher als sie gemerkt.
Sie merkte es daran, dass er nicht mehr da war, als sie ihren Blick endlich von der Wand wandte."
 
 


Tuesday, July 16, 2013

Von Mauern und Kometen.

"Sind wir bald da?", fragte sie mit ihrer für ein Mädchen seltsam tiefen, aber heute befangenen Stimme, die bloßen Füße auf dem heißen Armaturenbrett, der vom Fenster herunterhängende Traumfänger kitzelte ihre Zehen. Wortlos schaltete er den Blinker ein. Sie wusste nicht, wo er war, aber sie teilten sich nicht mehr den gleichen Boden. Manchmal wusste sie nicht mal, ob er überhaupt von der Schwerkraft auf der Erde gehalten wurde, oder ob er es aus bloßem Pflichtbewusstsein tat. Sie dagegen hatte das Gefühl, von der Erdanziehung mehr gewaltsam zu Boden gedrückt, als nur angezogen zu werden. Wie viele haltlose Menschen wohl im Universum herumschweben würden wie lebendige Kometen, wenn nicht mal die Physik sie auf der Welt halten würde? Die Milchstraße wäre wahrscheinlich so voll wie die Kaufingerstraße am dreiundzwanzigsten Dezember. Sie ertappte sich selbst dabei, wie sie leise auflachen musste. Und fragte sich im nächsten Augenblick, ob er deshalb so abwesend, so abweisend war. Weil sie einfach verdammt verquer war. Weil sich wahrscheinlich keiner so in den Dingen verlief wie sie. Sie tastete sich blind vorwärts, in diesem Labyrinth aus Blicken, Worten und Kometen, vergaß sich zu merken, wann sie eine Abbiegung genommen hatte und merkte nicht, wenn sie an einer Wand schon vorbeigekommen war. Ihr Universum war nicht frei, es gab Wege und Mauern, aber sie hatte weder einen Kompass noch einen klaren Kopf. Er war mal ihr Wegweiser gewesen, hatte ihr Ausgänge gezeigt, hatte sie durch das Labyrinth getragen, das sie Leben nannten.
Und jetzt saß er am Steuer ihres alten, aber heißgeliebten Golfs, blinkte und es traf sie wie ein Fausthieb. Sie war nicht so getroffen gewesen, als er ihr erzählt hatte, dass er jemanden kennen gelernt hatte, war nicht so am Boden zerstört gewesen, als sie die letzten drei Tage dort getrennt verbracht hatten, er mit ihr, sie mit Kabelfernsehen und Vodka. Hatte nicht so einen stechenden Schmerz verspürt, als sie sich am Morgen den Finger in der Autotür geklemmt hatte, weil sie sich in Gedanken vom Meer verabschiedete, an Ritualen hielt sie fest.
Und jetzt blinkte er nur und brach ihr damit das Herz.
Sie bogen in ihre Straße ein.
Er stieg zuerst aus."
 
 
Bild: Porsche Brosseau (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Wednesday, June 19, 2013

The cold moon hangs to the sky by its horn/ And centres its gaze to me.


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Die Lichter der Stadt glänzen auf der nassen Straße, der Schein der Straßenlaternen hallt in den menschenleeren Gassen wider. Einsame Lichter hinter geschlossenen Fenstern. Raben ziehen über den Himmel wie geflügeltes Pech. Die Nacht ist stumm und dunkel. Aber die Finsternis hat auch etwas sonderbar Tröstliches. Man klammert sich an die Stille wie an das letzte kühle Bier in seiner Hand. Versucht verzweifelt festzuhalten, was man tagsüber aus den Fingern gleiten spürt und loszulassen, was einem die Luft nimmt. Sterne wie tausend stechende Blicke, wie alle Fehler, die man je gemacht hat. Vielleicht sind sternenklare Nächte gar nicht die Besten. Sondern die stockfinsteren, die einen behutsam einhüllen, und sich wie ein schwarzer Umhang über alle Enttäuschungen des Tages legen.
Der letzte Schluck. Und plötzlich ist alles ganz klar und scharf, wie bei einem Fotoapparat, dessen Linse vorher durch Wassertropfen und Sand getrübt war. Der Mond sagt die Wahrheit. Nur wir tun es nicht. 

Saturday, June 01, 2013

I thought I was close but under further inspection/ It seems I've been running in the wrong direction.

Manchmal will man einfach nur auf die Straße laufen und laut rufen: "Was mache ich hier eigentlich?" Man tut es nur nicht, weil man genau weiß, dass man keine Antwort bekommen wird. Und man wird es vielleicht auch nie so wirklich wissen, was man hier eigentlich macht. Man macht es einfach. Auch wenn es oft verdammt schwer fällt. Wofür steht man jeden Tag auf, obwohl es immer gerade dann am gemütlichsten ist, wenn man weiß, dass der Wecker in zwei Minuten klingelt? Wofür geht man abends ins Bett, obwohl man eigentlich am liebsten die Nacht durchmachen würde? Wofür quält man sich mit Dingen, die einen langweilen oder belasten? Wofür das alles? Glauben wir, dass es sich am Ende schon lohnen wird? Dass am Ende der Straße die ganz große Belohnung für unsere Mühen wartet?
Das Leben ist ein ständiger Walzer. Wir dürfen einfach nicht aufhören zu tanzen, die Füße halten nicht still, ewige Schritte, das Herz immer im gleichen Rhythmus. Man muss sich einfach mitdrehen, mit wechselnden Partnern. Man tanzt mal schneller, mal langsamer, mit manchen tanzt man lieber als mit anderen, aber man darf nicht aufhören, muss immer weiter über das Parkett wirbeln, atemlos, ohne Halt, ohne Orientierung. Oft wissen wir gar nicht, wohin wir uns gerade bewegen, man dreht sich einfach mit, mit schwindeligem Kopf und müden Augen. Doch was sollen wir tun, wenn die Musik plötzlich nicht mehr spielt? Wir versuchen uns in der Stille weiterzudrehen, stolpern, kommen aus dem Rhythmus, möchten  einmal einfach nur loslassen und hinfallen, aufhören, durchatmen.
Aber wahrscheinlich zeigt sich gerade in den Momenten ohne Musik, wer ein wirklich guter Tänzer ist.
Wahrscheinlich wollen wir am Ende des Tages einfach glücklich sein. Wir wollen einfach nur das Gefühl haben, dass es richtig ist, was wir tun. Dass wir in die richtige Richtung laufen. Dem Ziel ganz nah.




Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0
 

Monday, April 08, 2013

There is a pleasure in the pathless woods/ There is a rapture on the lonely shore.


"Sie war immer schon ein Meerkind gewesen.
Während andere Kinder auf Bäume kletterten, saß sie alleine auf einer Düne im wehenden Gras und starrte auf das Meer vor sich. Hielt ganz still. Wie ein Porträt, das jemand in den Sand gezeichnet hatte. Beobachtete den immer gleichen Rhythmus der sanft anrollenden Wellen und dachte nach. Stundenlang. Oft fand man sie abends schlafend im Sand, eingerollt wie ein Embryo, die Faust fest um Muscheln und andere gesammelte Schätze des Strandes geklammert. Egal wie tief sie schlief, ihre Finger lösten sich nie auch nur ein kleines Stück, sondern hielten so beharrlich daran fest, als hielte sie ihr ganzes Leben in dieser Faust. Und vielleicht hatte sie wirklich für diesen einen Moment die ganze Welt in ihrer Hand.
Keiner wusste so richtig, wieso ihr das Meer so viel mehr bedeutete als anderen. Wahrscheinlich hat sie es von ihrem Großvater, der sein ganzes Leben auf See verbracht hat, dachten ihre Eltern oft. Aber wahrscheinlich liebte sie es, weil es einfach da war. Immer. Ausnahmslos. Ohne Wenn und Aber. Während andere ihr mal wieder Dinge versprachen, die sie nicht einhielten, wenn ihre Wünsche auch nach der zehnten Sternschnuppe nicht in Erfüllung gingen, konnte sie darauf zählen, dass wenn sie aus ihrer Haustür ging und um die Kurve bog, das Meer dort so ruhig da lag, als hätte es nur auf sie gewartet.
Sie mochte die Stille. Das Meer gab ihr keine Antworten, aber es stellte auch keine Fragen. Es konnte einfach nur verdammt gut zuhören.
Später suchte sie dort Abstand zu den immer gleichen oberflächlichen Gesprächen und Problemen in ihrem Umkreis. Sie bemühte sich stets, ihre Rolle so zu spielen, wie man es von ihr erwartete. Sie wusste stets das Richtige zu sagen, hörte geduldig zu und lachte in den passenden Momenten. Doch innerlich fühlte sie sich fehl am Platz, verloren wie eine Taube im Papageienkäfig. Sie spielte ihr Spiel gut, doch wenn der Vorhang gefallen war, nahm sie ihre Perücke ab und ging zum Strand."

Wednesday, April 03, 2013

No clay-born lilies of the world / Could blow as free / As those wild orchids of the sea.

 
 
Fliegen. Fliehen.
Wenn man es nur könnte.
Wie die Seemöwen den Strand umkreist man kreischend seine Sorgen, dreht sich im Kreis, findet keinen Ausweg. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Und deshalb bleibt man einfach zitternd stehen und hofft, dass einen jemand aufhebt und weiterträgt.
Manchmal wacht man nachts auf, weil man geträumt hat, dass man ertrinkt. Und manchmal wacht man auf, weil man im Traum aus den Fluten gerettet wurde. Und wenn man sich den Schlaf aus den Augen gerieben hat, muss man feststellen, dass das Wasser noch genauso hoch steht wie am Abend zuvor.
Fliegen und Fliehen.
Die Arme ausbreiten, sich in den Himmel schrauben, und weg. Egal wohin. Hauptsache es ist nicht da, wo man vorher war. Und wo alles ist, wovor man weglaufen möchte.
Nackte Füße im Sand statt Wollsocken im Bett. Sommerkleid statt Schlafanzug. Ein Lächeln auf den Lippen statt Trauer in der Brust. Es wird Zeit, dass der Winter verschwindet und alles mit sich nimmt.


Saturday, March 23, 2013

You forget what you want to remember and you remember what you want to forget.

 
 
Erinnerungen kann man sich nicht einfach entziehen, egal wie sehr man es sich wünscht. Sie brennen sich in dein Gedächtnis ein. Lauern dir auf wie Gespenster, heften sich an deine Fersen und verfolgen jeden deiner Schritte. Sie sind immer neben dir, wie ein unsichtbarer Schatten begleiten sie dich jeden Tag. Dabei sind es meist die schmerzhaftesten Erinnerungen, die dich nachts wach halten. Im Grunde tun sie alle weh. Die schönen Erinnerungen, weil sie dich an das erinnern, was einmal gewesen ist und dir schmerzlich bewusst machen, wie schrecklich anders heute alles ist. Die bitteren, weil sie dich den Schmerz immer wieder neu durchleben lassen. Jeden Tag. Wir gehen mit ihnen ins Bett und stehen mit ihnen wieder auf. Die Bilder von lachenden Kindern, die sich an den Händen halten und ins Meer laufen, von dem feierlichen Moment, wenn sich die Familie einmal einen Abend lang verträgt, von einer durchtanzten Nacht mit Freunden, tauchen nur manchmal auf, wenn man sich durch alte Fotoalben wühlt und versucht, die Gefühle zurückzuhalten, die wild mit den Flügeln schlagen und aus ihrem Käfig drängen.
Doch um uns selbst zu schützen, lassen wir sie nicht frei. Vielleicht, weil wir sie sonst nicht wieder einfangen können. Vielleicht, weil wir nicht genau wissen wollen, was wir uns so bemühen zurückzuhalten. Wahrscheinlich aber tun wir es aus dem gleichen Grund, aus dem wir fast alles tun im Leben: Angst.
 
Wir erinnern uns an Dinge, aus Angst, sie zu vergessen. Und wir versuchen viele Dinge zu vergessen, weil wir die Erinnerung an sie fürchten.


Bild: Porsche Brosseau (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Tuesday, January 01, 2013

Today is the first blank page of a 365 page book. Write a good one.

Die Zeit greift mit Staubfingern nach uns und wir sind so beschäftigt, Pläne zu machen, dass wir gar nicht merken, dass währenddessen Seite um Seite umgeblättert wird. Gestern konnte ich fast hören, wie um Mitternacht ein dickes Buch energisch zugeklappt wurde, etwas Staub aufwirbelte und dann zu den anderen Jahren ins Regal gestellt wurde. Und heute sitze ich mit leergefegtem Kopf, der sich trotzdem seltsam schwer anfühlt, vor einem weißen Blatt und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wie immer, wenn ich ein gutes Buch fertig gelesen habe, schlage ich es noch einmal auf und versetze mich zurück in die Lage, als es noch neu und aufregend war und ich nicht wusste, was mich erwartet. Wie immer, wenn etwas zu Ende geht, bin ich wehmütig und sträube mich wie ein kleines Kind gegen alles, was unbekannt ist. Und wie immer würde ich das Buch am liebsten nochmal lesen, jetzt wo ich weiß, dass ich mich darauf freuen darf und am Ende alles gut ausgeht.
Aber ein Jahr ist nunmal kein Buch, dass man einfach nochmal lesen und alles von neu erleben kann. Man kann es höchstens aus dem knarzenden Regal ziehen und hin und wieder darin blättern, den Geruch der vergilbten Seiten aufsaugen und sich an das Gefühl erinnern, das man beim Lesen hatte.
2012 war ein gutes Buch. 12 Kapitel, 365 Seiten, unzählige Erinnerungen.
Im Januar selber Glückskekse backen. Im Februar ans Meer fahren, sich die salzverkrustete Luft um die roten Ohren wehen lassen und den Kopf frei kriegen. Im März ein letztes Mal mit der Schule wegfahren, bevor das Lernen losgeht, und einfach nochmal unbeschwert sein, bevor man dieses Gefühl für die nächsten paar Monate luftdicht verpackt und wegschließt. Im April einen schwarzen Schwan auf der Bühne des Prinzregententheaters tanzen und sich in solchen unvergesslichen Momenten auf der Bühne bewusst werden, dass sich alle Zeit und Proben immer lohnen werden. Im Mai versuchen, die Nerven zu bewahren, während man alle paar Tage in einen stickigen Raum geballter Anspannung gesperrt wird und panisch Abiturangaben vollkritzelt, in der Hoffnung, irgendetwas Brauchbares zu produzieren. Im Juni endlich wieder aufatmen und auf einen Schlag alles nachholen, was man während der Prüfungen verpasst hat: Tage am See, Nachmittage im Freibad, Abende im Biergarten, Nächte auf Dachterrassen. Im Juli eine Reise machen, die sich wie ein Mosaik aus tausend Eindrücken zusammensetzt und und die man nie vergessen wird - im Whirlpool sitzen und die heißen Tropfen am Körper spüren, während der Kopf von kalter Ozeanluft umwirbelt wird, Blaubeerpfannkuchen zum Frühstück essen, einen Wal aus dem spiegelglatten Atlantik springen sehen, durch Central Park spazieren und die zutraulichen Eichhörnchen beobachten. Im August misstrauisch werden angesichts der sich häufenden kleinen und großen Glücksmomente. Im September dem Haus einen neuen Anstrich geben, und dem eigenen Leben gleich dazu, während man sich zur rauhen Stimme von Norah Jones durch verstaubte Kisten mit unzähligen Kindheitserinnerungen wühlt, um dann aufzustehen, sich den Dunst von den Knien zu schütteln und einen Job in einem kleinen Laden voller Schokolade zu beginnen. Im Oktober nach Pisa reisen, geliebtes bella italia, und dann ein neues Leben als Studentin der Literatur beginnen. Im November sich einnisten in seinem neuen Leben, neue Menschen kennen lernen, neue Bücher. Im Dezember dem Tanzen erneut verfallen, neun Auftritte in zehn Tagen, währenddessen immer gestresst und genervt, hinterher immer wehmütig und dankbar für jede einzelne Minute auf der Bühne.
Das sind Erinnerungen vom letzten Jahr, die ich für immer einfangen will. Die anderen schiebe ich weg, sperre sie in eine kleine Holzkiste und schmeiße den Schlüssel weg.

Für 2013 nehme ich mir nicht viel vor, irgendwann hat man gelernt, dass man sich sowieso nie an Vorsätze hält. Aber ich will versuchen, mehr zu lesen und vor allem mehr zu schreiben. Und ich will in diesem Jahr nach Paris. Weil ich einfach das Gefühl habe, dass ich dort hingehöre. Dass dort, zwischen Eiffelturm und Straßencafés, mein Platz ist. Ich bin hier nur auf dem Sprung.


Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Friday, November 30, 2012

Tuesday, October 30, 2012

Once I was pure as the snow, but I fell/ fell like the snow flakes from heaven to hell.

Der Oktober neigt sich dem Ende zu. Die bunten Herbstblätter werden matt und kraftlos und die nackten Bäume mit ihren dürren Ästen scheinen so zu frieren, dass man ihnen eine Jacke überziehen will.
Und fast wäre der Oktober ohne einen einzigen Text auf diesem Blog vorbeigegangen. Ich verstehe nicht, wieso es mir so schwer fällt, zu schreiben. Ich habe jeden Tag Tausend Gedanken im Kopf, ich fühle mich überall von Geschichten umgeben, von Stimmen, die mir Worte und Sätze zuflüstern, aber ich bringe nichts davon zu Papier. Ich kann sie einfach nicht fassen, all diese Gedanken.
Sollte es nicht eigentlich ganz einfach sein?
Manchmal scheint alles ganz einfach. Klar und weiß. Wie Schnee.

Der erste Schnee des Jahres ist und bleibt etwas Besonders. Es ist, als könnte man für diesen einen Augenblick das Glas, in dem das Gefühl seiner Kindheit eingefangen ist, einen Spalt breit öffnen und etwas von diesem Geruch strömt heraus, der Duft von Lebkuchengewürzen und Kuchenteig. Und auch wenn man es schon so oft erlebt hat, und sich spätestens im Februar über die weiße Last ärgert, ist man jedes Jahr aufs Neue aufgeregt wie ein kleines Kind, wenn die ersten kleinen Flocken durch die Luft wirbeln, vorsichtig noch wie Neugeborene, die das Fliegen erst wieder lernen müssen und sich zaghaft durch den Himmel kreiseln. Und wenn der Schnee dann alles mit einer dünnen Schicht verhüllt hat, wird es plötzlich still. Ganz still. Und diese unglaubliche Ruhe erfasst einen, die es nur geben kann, wenn die Schneedecke alle Geräusche und Sorgen dieser Welt zu dämpfen scheint. Nichts kann durch diese schützende weiße Wand nach außen dringen, die für einen winzigen Moment alles Grau bedeckt und uns zumindest vorspielen kann, dass alles gut wird.
Und während man durch diese weiße Landschaft stapft, die verstummt zu sein scheint, kommen die Erinnerungen in aller Stille. Leise und heimlich schleichen sie sich von hinten heran, und stürzen dann ohne anzuklopfen ins Bewusstsein.
In der Ferne weht Kinderlachen herüber und plötzlich sieht man sich selbst am Küchentisch vor einer heißen Tasse Tee sitzen, mit roter Nase und steifen Fingern vom Spielen im Schnee. Natürlich hatte man Handschuhe angezogen bekommen, aber mit dicken Fäustlingen kann man verdammtnochmal einfach keine richtigen Schneebälle formen.
Man rast vor seinem inneren Auge mit einem Schlitten den kleinen Berg im Dorf hinunter, wo sich im Winter immer alle Kinder getroffen haben, um zu sehen, wer die waghalsigsten Sprünge schafft und wer die meisten Fahrer auf einen Bob bekommt.

Aber dann steht man vor seiner Haustür, schüttelt sich die Schneeflocken und Erinnerungen ab.
Und macht den Deckel ganz vorsichtig wieder zu.


Bild: Porsche Brosseau (flickr.com) unter cc by-sa 2.0

Sunday, September 23, 2012

The falling leaves drift by the window/ The autumn leaves of red and gold.


 Der Herbst raschelt verheißungsvoll. Ich weiß nicht, wieso der Herbst immer verurteilt wird als trostlose Zeit, in der alles grau und schwer ist und die Lebensfreude des Sommers langsam aus allen Zellen weicht. Ich liebe den Herbst. Ich liebe die strahlenden Farben, ich liebe es, wenn die Sonne durch einen kleinen Spalt im Dickicht der Bäume fällt und das Laub des Waldes in ein warmes Licht taucht und man das dringende Bedürfnis verspürt, dieses Licht tief einzuatmen und in sich zu bewahren für kommende kalte Tage.
Ich liebe sogar die grauen Tage, wenn der Regen unablässig vor dem Fenster auf die verblasste Straße tropft und man es sich drinnen gemütlich machen kann und nichts anderes tun muss, als den Regentropfen beim Fallen zuzusehen.
Heute ist so ein Tag. Während draußen der Regen an der Fensterscheibe herunterrinnt, und sich die Sonne für das Jahr leise verabschiedet hat und uns mit nichts zurücklässt als mit Erinnerungen an Sonnenbrände, tropfende Eistüten und glückliche Momente, sitze ich in Jogginghose auf dem Bett, neben mir eine angebrochene Packung Bitterschokolade. Kein schlechter Tausch.
 
 Jahreszeiten haben etwas sonderbar Tröstliches. Auch wenn ich vielleicht mal das Gefühl habe, dass die Welt um mich herum gerade in Stücke bricht, wenn der Oktober an die Tür klopft, färben sich die Blätter und flattern zu Boden und der Herbst ist da. Jedes Jahr aufs Neue. Während man vielleicht gerade enttäuscht ist von einem Freund, der sich nicht meldet und einen vergessen zu haben scheint, kann man auf diese vier Freunde zählen: im Frühling kriechen Blumen aus dem Boden, im Sommer steigen die Temperaturen und die Laune, im Herbst sinken die Blätter (und meist auch die Laune) und im Winter fallen Schneeflocken vom Himmel. Jedes Jahr. Immer und immer wieder.
Und ich finde es tröstlich zu wissen, dass es Dinge gibt, auf die man sich einfach verlassen kann. Denn egal ob man gerade seinen Job, seinen Hund oder seine große Liebe verloren hat, ob man sich mit einem geliebten Menschen verkracht, eine wichtige Prüfung vermasselt oder mit einer miesen Krankheit gekämpft hat - das Rad der Natur dreht sich unablässig weiter, ohne sich um die kleinen Spielfiguren, die wir in dieser großen Welt sind, zu kümmern.
Wie ein kleines Kind freue ich mich jedes Jahr aufs Neue auf den Herbsteinbruch, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben sehen, wie die Blätter langsam in sich zusammenfallen und kraftlos und knittrig wie alte Briefe auf den mit Kastanien übersäten Boden segeln. Und alles, was man tun möchte, ist tief in einen einen Laubhaufen zu greifen und die Blätter in die Luft zu werfen wie kleine Glücksboten, die in den Himmel wirbeln wie Sternenstaub.


Bild: Koshy Koshy (flickr.com) unter cc by-sa 2.0
 
 
 

Saturday, August 18, 2012

un amore grande che comincia piano e respira vento come gli aquilon.



Ich habe mich verliebt.
Sie ist zum Dahinschmelzen. Sie ist wunderschön, federleicht wie Wolken an einem Sommertag und erfrischend wie salzige Wassertropfen, die einem nach einem Bad im Meer den Rücken herunterrinnen. Sie fühlt sich auf der Zunge so herrlich an wie kühles Himbeereis und wärmt den Bauch wie Spaghetti bolognese. Sie lässt mich träumen von einer Welt, in der alles in Pastellfarben und warmes Sonnenlicht getaucht ist, einer Welt, in der alles noch so ist, wie es sein sollte. Pur. So tröstlich wie ein Teller Lasagne nach einem anstrengenden Tag. Ein Lächeln, das einem genau dann geschenkt wird, wenn man gerade aufhören wollte, an das Gute in der Welt zu glauben.
Sie macht mich unfassbar glücklich. Ich glaube, das ist der Beginn einer ganz großen Liebe.

Ich habe mich in die italienische Sprache verliebt. In ein rotes Notizbuch trage ich jeden Tag voller Freude neue Verbentabellen, Präpositionen und Jahreszeiten ein. Nur was sich jetzt nach grauer und leerer Schreibarbeit hat, verwandelt sich auf dem Papier in so wundervolle Wörter wie "tabella di coniugazione dei verbi", "preposizioni" und "le quattro stagioni". Wortschlangen wie "negozio di abbigliamento" und nuvola di pioggia" winden sich wie Tagliatelle im Mund und schmecken fast genauso gut, wenn man sie herunterschluckt.
Statt also untätig herumzuhocken und zu warten, bis das Studium im Herbst anfängt, pauke ich Italienisch und verschaffe mir den Schlüssel zu einer anderen Welt. Es ist toll, wie ein Neugeborenes nach Wörtern zu greifen zu können, nach Wörtern, die noch fremd und unbekannt und deshalb eigenartig aufregend sind.
Vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon durch die Altgassen Roms oder Venedigs streifen, ein Zitroneneis in der einen Hand und mein Herz in der anderen. Vespa fahren, einen Riesenteller Spaghetti mit Parmesan verputzen, einem Straßenmusiker mit Gitarre zuhören. Vielleicht ist das alles, was man braucht, um glücklich zu sein. Vielleicht auch nicht.
Aber bevor ich im Oktober mein neues Leben anfange, das "Schülerin" aus meinem Ausweis radiere, stolz durch "Studentin" ersetze und hoffentlich endlich anfangen kann, so richtig faul zu sein, macht es einfach glücklich, ein Ziel vor Augen zu haben, an dem man sich festhalten kann.
Wenn ich also von einem Tag im Freibad, einem schönen Abend mit Freunden in einer Bar oder auch einer Reise nach New York wiederkomme, schlage ich mit einem Lächeln im Gesicht meinen Sprachkurs "Italienisch in 30 Tagen" auf und mache mich ans Lernen. Aber während ich beim Abitur das Gefühl hatte, nur für die nächste Prüfung zu lernen - was auch stimmte, ich könnte heute beim besten Willen keine Tangentengleichung mehr aufstellen! Wobei, wenn ich es mir recht überlege, hat das schon in der Abiprüfung nicht so recht geklappt. Aber das ist ein anderes Thema. -, macht das Büffeln von Vokabeln und Konjugationen plötzlich Spaß, weil man einen Sinn darin sieht, der weiter geht als bis zur nächsten Woche. Und sei es nur, um übernächste Woche Pizza zu holen.