Tuesday, February 02, 2016

Für den Rest ihres Lebens.

"Es fing damit an, dass sie beim Pinkeln plötzlich ein Geräusch hörte. Vielleicht nur ein organischer Defekt, ein undichter Abzug. Sie zog ab.

Am nächsten Tag wurde sie von einer Menschenmasse in die nächste geworfen, dann lief sie mit einem Freund nach Hause; er war ihr ungewöhnlich nahe, als sie durch die tiefen Straßen pflügten, sie aßen zusammen und fielen verschlungen ins Bett. Es fühlte sich gut an, nicht alleine zu sein, und sie wunderte sich nicht, einen zweiten Tenor beim Zähneputzen zu hören. Sie wunderte sich auch nicht, als sich das Spiel am darauffolgenden Tag und so den Rest der Woche wiederholte, und stellte keine Fragen, nicht an sich und nicht an die Welt und auch nicht an die Badezimmerfliesen; das Geräusch war wieder da. Sie gewöhnte sich an die subtil vulkanische Wärme seines Atems und den doppelten Herzschlag, mal Dur, mal Moll und immer im Kanon. Sie sah ihn ja nicht immer, in der Arbeit redete sie viel mit den Kollegen und manchmal fuhren sie zusammen mit ihrer Mutter heim, die im Nachbarort wohnte und sich Arzttermine in die Stadt legte, wenn die Langeweile und ein tiefes Stechen, das von einer alten Verletzung am Ischiasnerv rührte, wieder den Rücken hochzog. Erst als ihr nach zwei Wochen und erst erstauntem und dann hektischem Nachrechnen auffiel, dass sie seit diesen zwei und einer weiteren Woche nicht mehr alleine gewesen war, bekam sie Panik.

Das bildest du dir ein, sagte sie sich, das ist purer Zufall. So ist das, wenn man einen neuen Menschen in sein Leben lässt und sozial nicht völlig erkaltet ist, sei doch froh, dass du nicht Frau Berger vom dritten Stock bist – wenn die stirbt, merkt man es erst, wenn’s riecht.

Der nächste Tag war ein Mittwoch und als sie in ihrem Büro saß, umringt von Chefs und Kollegen, Leute über ihr, Leute unter ihr, nichts als Leute zwischen ihr und überall um sie herum, da beschloss sie, etwas auszuprobieren. „Ich gehe kurz in die Teeküche, mag jemand was?“, rief sie halblaut in die Runde. „Ach, ich hab den ganzen Tag schon so Bauchschmerzen, ich hab heute Nacht meine Tage bekommen, der erste Tag ist immer der schlimmste, ich bin so aufgebläht, das glaubst du gar nicht..“, setzte ihre Kollegin an, die nie zu wenig sagte und immer das Uninteressante, „ich komm mit“. Gut, Bianca ist ein Härtefall, das war klar. Kein Grund zur Aufregung. Sie teilten sich eine Portion im Wasserkocher, einmal Früchtetee und einmal Mach-dir-keine-Sorgen-es-wird-alles-wieder-gut-Lindenblüten-Kamille. Doch dann häuften sich die Niederlagen: die Heimfahrt teilte ihre Mutter, das Gesäß schmerzte wieder, dann lief sie mit ihm durch einen schüchternen Regen (Regen, der nicht die Eier hat, anständig zu fallen, und ein armseliges Dasein als humide Luftfeuchtigkeit auf Jacken und Haaren fristet), aß Käse und Trauben und erzählte ihm von diesem Thoreau-Buch, das sie neulich gelesen hatte und wie spannend das Konzept der Einsamkeit doch sei, klingt das nicht befreiend? Fand er nicht. Er schlug vor, zusammen einen Film anzusehen, sie wollte lieber lesen, er dann auch. Sie schlief nicht gut die Nacht, sein Atmen klang jetzt immer lauter, wie ein anrollendes Flugzeug in einer gewitterlosen Sommernacht. Er war kein Schnarcher.

Und sie horchte in den Abgrund der Nacht hinein und in das Echo fremder Atemzüge und merkte, sie hatte erreicht, was sie immer wollte: Sie war nicht mehr allein.
Das Problem war nur: für den Rest ihres Lebens."
 
 
Bild: Sabino Aguad (flickr.com) unter cc by-nc-sa 2.0