Friday, June 20, 2014

Linie 17.


"Leicht genervt und viel nüchterner als sie gehofft hatte, stolpert sie aus dem Club in die Novemberschwärze. Es ist eine ganz blöde Uhrzeit, um die Biege zu machen, das fällt ihr erst jetzt auf. Es ist so spät, dass alles, was draußen rumläuft, schon komplett besoffen ist und nur noch wenige Körperfunktionen selbstständig steuern kann, aber so früh, dass zerbrochene Bierflaschen und erbrochene Drinks immer noch überall auf dem Gehweg kleben. So spät, dass die letzte U-Bahn längst gefahren ist, aber so früh, dass die nächste erst in ein paar Stunden kommt. Es ist dieses samstagnächtliche Wurmloch, in dem einem selbst der öffentliche Nahverkehr das Gefühl gibt, dass man irgendwas total falsch macht im Leben. Man sollte gerade Spaß haben, sich die Luft aus der Lunge tanzen, die Zellen und Ängste aus dem Gehirn trinken, alles, nur nicht nach Hause fahren. Im dunklen U-Bahn-Schacht kommen ihr zwei Typen entgegen und werfen ihr irgendeinen dummen und wahrscheinlich ziemlich sexistischen Spruch ins tanzverschwitzte Gesicht. Sie macht auf arrogante Eisprinzessin und irrt fluchend zwischen Oberfläche und Unterführung hin und her. Laufen würde schneller gehen. Aber ihre Fußballen in den Stiefeletten brennen wie Feuer und den Weg weiß sie irgendwie auch nicht genau. Die Tram kommt in 27 Minuten. Sie lässt sich auf einen kalten Sitz fallen, und bemüht sich, nicht zu heulen, während sie ihre Ohrstöpsel entwirrt. Sie weiß gar nicht genau, wieso sie heute Abend so schlecht drauf ist. Wieso sie alleine um drei aus dem Club geflüchtet ist, obwohl alle ihre Freunde noch auf der Tanzfläche geblieben sind. Vielleicht, weil mal wieder alle unverschämt viel Spaß hatten und sie zwischen drei guten Songs außer Musik, Müdigkeit und der immer gleichen Melancholie nicht viel gefühlt hatte.

Sie dreht an ihrem ipod-Rädchen auf ganz rechts ganz laut und schaut auf die schwarze Straße vor sich, als könnte ihr dort irgendwas weiterhelfen, ein lebenskrisenerprobter Igel vielleicht. Noch bevor das erste Lied zu Ende ist, nähert sich ein Kerl. Er sieht gut aus, das sieht sie sofort. Wahrscheinlich eine Angewohnheit, wenn auch eine ziemlich weitläufige, aber sie kann Typen mittlerweile in Sekundenschnelle abscannen, auch im schüchternen Licht einer Straßenlaterne, angetrunken um drei Uhr nachts. Blonde Haare, ein paar Bartstoppeln, nichts fällt aus dem Rahmen, diesmal. Ihre ganze Bank ist leer, die anderen drei auch. Er lässt sich genau auf den Sitz links neben sie fallen. „Hey“, sagt der Typ. Sie dreht die Musik leiser. „Hi“. „Ich bin Paul“. Sie steckt den ipod in die Tasche. „Lilith“."


Bild: Toffee Maky (flickr.com) unter cc by-sa 2.0